Entschlossen zur Verständigung

Das Theaterprojekt „Les Descendants / Die Nachkommen“

von Martin Hagemeyer

Entschlossen zur Verständigung

Text: nach Sedef Ecer
 
Regie: Bruno Freyssinet - Mitwirkende: Selin Altiparmak, Günfer Cölgecen, Hadrien Bouvier, Tatavik Ghazaryan, Vardan Mkrtchyan, Julia Penner, Andreas Wrosch, Gerard Torikian.
 
Das Theaterprojekt „Les Descendants / Die Nachkommen“ war zu Gast in Wuppertal, und die Aufführungen im Kleinen Schauspielhaus waren in mancher Hinsicht etwas Besonderes. Das Stück handelt von Versuchen der Verständigung zwischen Nachfahren von Tätern und Opfern, und zwar am Fall der türkischen Verbrechen an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. Istanbul war bislang nur Wunschort für ein Gastspiel der Truppe um den Regisseur Bruno Freyssinet, aber in der armenischen Hauptstadt Eriwan hat man tatsächlich bereits gespielt, und mit Paris und Berlin außerdem in zwei weiteren Städten, die einschlägig sind zum Thema „Erbfeindschaft“.
 
Wuppertal fällt unter derlei selbsterklärenden Stationen da heraus – und auch wieder nicht: Die Armin-T.-Wegner-Gesellschaft hatte die Produktion eingeladen, weil Wegner, der 1978 gestorbene Elberfelder Schriftsteller, mit Verständigung im Allgemeinen und Armenien im Speziellen eng verbunden ist. Übergeordnet die Bedeutung also auch hier. Man wird sagen dürfen: An dem Stück „Les Descendants“ sind überhaupt seine Umstände wichtiger als das Stück.
 
Türkei, Armenien, Frankreich und Deutschland sind nicht nur die Bezugsgrößen für das Versöhnungsthema, sondern darüber hinaus auch die Herkunftsländer der Schauspieler. Auch ist Sedef Ecer Türkin, die Autorin des (inzwischen veränderten) Stücks, und Regisseur Freyssinet ist Franzose. Und wie man im Nachgespräch erstaunt erfährt, stehen armenische und türkische Schauspieler zum ersten Mal überhaupt gemeinsam auf einer Bühne, seit zwischen 1915 und 1917 bis zu 1,5 Millionen Armenier der türkischen Verfolgung zum Opfer fielen. Verglichen mit dieser historischen Bedeutung ist das Stück selbst da fast zweitrangig.
 
Ein ungekanntes Erlebnis ist es zwar, wie heute einer Theatervorstellung beizuwohnen, die durchgängig in fünf Sprachen gehalten ist (auch englisch wird gesprochen); Wandprojektionen liefern die Übersetzung. Wer allerdings im Vorfeld damit gerechnet hatte, die ganz reale sprachlich-nationale Differenz sei vielleicht von dramaturgischer Bedeutung für das Ganze, der stellte nun fest: Verständnisschwierigkeiten sind zwar der Hintergrund des Abends, aber auf der Bühne finden sie nicht statt. Nicht nur die Akteure, auch die verkörperten Figuren verstehen einander, sprachlich wie inhaltlich. Kein Experiment wird präsentiert, sondern eine klare Handlung.
  Eine junge Frau erkundet dabei ihre Vergangenheit und erfährt, daß drei Generationen durch Schuld und Gewalt miteinander verflochten sind: Ihr Vater klärt sie nach und nach auf, daß sie sowohl von der Diktatorin abstammt, die ein ganzes Volk in die Wüste geschickt hat, als auch von der Frau, die diese dann durch ein Attentat tötete. Deutlich wird, daß dieser Handlungsrahmen sich auf das Verbrechen an den Armeniern bezieht, an die „Austreibung in die Wüste“, wie auch Armin T. Wegner als Zeuge im Weltkrieg die Taten genannt hatte – als Völkermord erkennt die Türkei sie bis heute nicht an. Zugleich will man mit „Les Descendants“ aber ja über den historischen Fall hinausweisen – Folge: Gespielt wird nicht konkret, gezeigt werden Rollen.
 
Am eindringlichsten ist bei alledem daher wohl die persönliche Betroffenheit der Beteiligten. Beim Schauen entsteht der Eindruck: Diese Schauspieler spielen so engagiert dieses Stück, weil seine Botschaft ihnen auch selbst ein Anliegen ist. Im Sinne von: Wir agieren zusammen, es ist also möglich.
Da paßt es gut zu hören, daß Autorin Sedef Ecer selbst Teil der Truppe ist und den Text eigens für sie geschrieben hat – wenn sie auch nicht mitspielt. Voll starker und dabei abstrakter Formulierungen, die in ihrem Zynismus für andere Völkerverbrechen ebenso passen könnten; so sagt die Diktatorin ungerührt: „Junge Menschen in den Tod zu schicken ohne einen Anflug von Poesie, ist monströse Geschmacklosigkeit.“  
Und zu den prägendsten Eindrücken von „Les Descendants“ gehört es wohl schließlich, wie die Akteure der späteren Generationen, zwar nicht logisch anwesend, dafür aber physisch, solcher Brutalität im Hintergrund zuhören – entsetzt, aber in stummer Entschlossenheit.