Sardinen, Sex und sieben Türen

Thomas Gimbel inszeniert im TiC-Theater Michael Frayns „Der nackte Wahnsinn“

von Frank Becker

Sardinen, Sex
und sieben Türen

Belinda Blair (Sabine Henke) strahlt Zuversicht aus: „Gibt es etwas Schöneres als Hauptproben?“ Doch sie liegt schief – es ist bereits die Generalprobe für den Schwank „Nackte Tatsachen“, die vor den Augen des verzweifelten Regisseurs Lloyd Dallas (charismatisch: Andreas Mucke) und seiner hilflosen Assistentin Poppy Norton-Taylor (bewußt blaß, still leidend, mit hängendem Rocksaum: Margarete Rosenbohm) einem grandiosen Scheitern entgegentaumelt.
Keiner der drittklassigen Darsteller beherrscht seine Rolle, letzte Änderungswünsche fegt Lloyd brachial oder mit Psychologie beiseite. Die Tournee durch die englische Provinz muß auf und über die Bühne. Das Publikum im intimen TiC-Theater in Wuppertal-Cronenberg darf von dieser Generalprobe bis zur letzten turbulenten Vorstellung dabei sein, wenn auch stets nur im ersten Akt.
 
Die Story…

Deshalb kennt man bald auch die Story fast zum Mitsprechen und weiß dadurch die Nuancen zu schätzen. Ein ländliches Anwesen: Haushälterin Mrs. Clackett (Dotty Otley: Martina Anhang mit

Nein Schätzchen, hier ist keiner ... - Martina Anhang - Foto © Martin Mazur
robuster Gleichmut), die das Haus für den Eigentümer und Steuerflüchtling, den Theater-Autor Philip Brent (Frederick Fellowes: Alexander Bangen, sensibel, mit bei allem Klamauk dezenter Komik) und dessen Frau Flavia (Belinda Blair: Sabine Henke, mit solider Übersicht und herrlich bieder) in Schuß hält, will es sich bei einem Teller Sardinen (darauf muß man erst mal kommen) vor dem Fernseher bequem machen, um sich die Beerdigung von dem ... Dingsda... anzusehen. Die völlig sinnlos erscheinenden Dosenfische werden der geniale Running Gag.
Weil er Brent in Spanien und Mrs. Clackett im Feierabend wähnt, will der Makler-Gehilfe Roger Tramplemain (Garry Lejeune: Christian Schulz, in zweifelnd
nervöser Unbeholfenheit) die sturmfreie Bude mit der schnuckeligen Vicki (Brooke Ashton; Hannah Klein, als doofes Blondchen und in Dessous eine Offenbarung) für ein Schäferstündchen nutzen. Leer glaubt auch ein ehrpusseliger Einbrecher (Selsdon Mowbray: Hartwig Kolbe, mit trockenem Humor einer, der mehr versteht, als die anderen glauben) das Haus. Und die Brents kommen heimlich nach Hause, um im eigenen Bett ihren Hochzeitstag zu feiern. Natürlich treffen alle in den unmöglichsten Konstellationen aufeinander.
 
…und ihre Elemente
 
Techniker und Mädchen für alles Tim Allgood (Alexander Klein, von hinreißender Müdigkeit), der seit

Schau mal, Frederick... v.l.: Bangen, Mucke - Foto © Martin Mazur
48 Stunden nicht geschlafen hat, klemmende Türen richten muß und auch noch für den zeitweise verschwundenen Selsdon in der Rolle als Einbrecher einspringen soll, schläft quasi im Stehen und rundet die Truppe, die das völlig über­drehte Stück Screwball umsetzen soll, eine Farce im Geiste Eugène Labiches und Dario Fos, in dem auch Bettlaken, Pappkartons, ein klebender Brief und - ja, Sardinen eine Rolle spielen. Dazu Eifersüchteleien, hochkochende Gefühle, viele Mißverständnisse, noch einmal Sardinen, immer wieder Sardinen, ein Scheich mit Scheichin, etliche falsch adressierte Blumensträuße sowie ein Telefon und – ja, Sardinen. Von den hoch motivierten Schauspielern wird in dem atemberaubend rasanten, höchst turbulenten und intelligenten Stück in Iljas Enkaschews pfiffigem Bühnenbild (7 Türen, ein Vorhang, ein Fenster zum Einbrechen und ein ohne Drehbühne brillant gelöstes „Backstage“) viel verlangt. Sie geben es und noch mehr.
 
Interna

Die Handlung parallel zum Stück: Der übersensible Garry hat ein Verhältnis mit der wesentlich älteren Dotty. Frederick kann keine Gewalt ertragen, bekommt davon sofort Nasenbluten. Belinda  ist betulich und sucht den Ausgleich – aber nur bis zu einer gewissen Grenze. SeIsdon ist nicht so recht durchschaubar, wird als Alkoholiker verdächtigt, ist aber nicht ein einziges Mal betrunken. Aber dafür Dotty bei der Dernière. Regisseur Lloyd hat was mit Brooke, die in tumber Ahnungslosigkeit und mit leerem Blick viel blonden Sex versprüht. Und er hatte auch was mit Poppy, die, wir erfahren es im ungünstigsten Moment wie es sich gehört, ein Kind von ihm erwartet.


v.l.: Alexander Bangen, Hannah Klein, Christian Schulz- Foto © Martin Mazur

Stumme und stürmische Turbulenzen, eine im wortlosen Ringen von Hand zu Hand gehende Feueraxt, Whisky-Flaschen, Blumensträuße und Sardinenteller halten die Zwerchfelle in Bewegung. Hannah Klein ist eine Entdeckung. Zuckersüß und strohdoof schmeißt ihre Brooke als talentfreies Dummchen Szene um Szene, weil sie zwar kurvenreich, aber talentfrei keinen Plan hat und gelegentlich auch mal ihre Kontaktlinsen verliert. Als schließlich aber alles aus dem Leim geht, zieht sie als einzige unbeirrt textsicher ihren Streifen durch – köstlich.

Theater auf dem Theater

Theater auf dem Theater ist stets eine Delikatesse, Boulevard ein allzu oft unter­schätztes Genre. Boulevard über Boulevard ist ein geradezu abenteuerliches Unternehmen. Michael Frayns Farce „Der nackte Wahnsinn“ gehört zum Schwierigsten, was die Branche zu bieten hat, aber auch zum Besten, ein Sprachkunstwerk und ein Meisterwerk an Präzision - wenn es gelingt. Thomas Gimbel setzt Frayns Meisterwerk, das vor 27 und vor sechs Jahren an den Wuppertaler Bühnen (hier war Gimbel von 1991-1998 Ensemblemitglied) volle Häuser feiern konnte und vor 13 Jahren mit der Wuppertaler Theatertruppe „neue WuTh“ (der Thomas Gimbel auch einmal angehörte) einen Sensationserfolg hatte, mit leicht erscheinender, sicherer Hand so um, wie Frayn es sich wohl gedacht hat. Das Ergebnis überzeugt von der ersten Sardine bis zum letzten Einbrecher. Lassen Sie sich im TiC für zweieinhalb Stunden bestens unterhalten.


Ensemble, v.l.: Anhang, A. Klein, Kolbe, Bangen, Rosenbohm, H. Klein, Schulz, Mucke - Foto © Martin Mazur
 
Weitere Informationen und Termine :  www.tic-theater.de