Bozen, Buben, Beichten

Bei den Franziskanern im Antonianum von Bozen

von Konrad Beikircher

Foto © Frank Becker
Bozen, Buben, Beichten
 
Vorige Woche habe ich Ihnen ja einiges über die wundervoll als Stätte der Kultur genutzte säkularisierte Franziskanerkirche in Lennep und über die Franziskaner als solche erzählt. In Bozen war das zur Zeit meiner Kindheit so: Ich war im Antonianum, einem Schülerwohnheim, in dem drei Franziskanerpatres 80 Zöglinge, und wir nannten uns selber tatsächlich so, auf das Leben nach dem Abitur vorzubereiten versuchten. Man war eingesperrt, ging zur Schule und zurück und Bozen war, obwohl wir mittendrin waren, weiter weg als der Mond. Bis auf den Samstagnachmittag, denn da gab es den Beichtausgang. Von 16 Uhr bis 17 Uhr dreißig durften wir raus. IN DIE STADT! Zum Beichten. Da stellte sich zunächst einmal die Frage: Bei wem beichtet man am günstigsten? Eine extrem wichtige Frage, denn Zeit war kostbar, da konnte man jetzt nicht eine halbe Stunde Vaterunser herunterleiern, dann war der Beichtausgang vorbei und man hatte vom Leben nichts gesehen.
P. Leopold war aber auch sonst ein sehr spezieller Fall, an den ich immer denken muß, wenn ich hier in Lennep die Treppe herunterkomme, von der Kanzel also quasi, um auf die Bühne zu gehen, Dann fällt es mir wieder ein:
Weil wir eine schöne Stimme hatten, wurden der Senfter, der Grüner und ich in der Franziskanerkirche bei den Sonntagsmessen oder den Novenen im Chor eingesetzt, den P. Konrad, Organist und Zeichenlehrer, organisierte, manchmal leitete er auch das Orchester und gestaltete die feierlichen Messen.
Einer der Höhepunkt meiner Karriere in der Franziskanerkirche war die Aufführung der Krönungsmesse von Mozart, wo ich als Solist das Alt-Solo im Benedictus sang und die Bozner als Bonsai-Callas offensichtlich zu Tränen gerührt habe – wenn ich glauben kann, was mir meine Mama damals erzählte. Es war jedenfalls ein Riesenfest, nachher gab es Würschtln im Kloster und der alte Furgler, Juwelier und Flügelhornspieler und überhaupt eine legendäre Bozner Figur, sagte mir, daß ich ganz fein gesungen habe und seitdem ist das Wort fein für mich Ausdruck des höchsten Lobes.
Dann: die Josefi-Novenen. Am 19. März ist Hl. Josef, also sein Namensfest, und in vielen Gegenden in Südtirol ist das Anlass, in Andachten abends in sich zu gehen und seiner zu gedenken. So auch in Bozen in der Franziskanerkirche. Die Novene dauerte etwa eine Stunde, Hauptteil war die große Bußpredigt vom P. Leopold. In der verdunkelten Kirche wirkten seine mahnenden Worte gewaltig. Seine donnernde Stimme brauchte kein Mikrophon, auch wenn die Kirche rappelvoll war, sie drang durch und erreichte die Herzen derer, die ihn hören wollten. Und in der Kirche warteten die Bozner während der einstündigen Predigt von Pater Leopold nur auf den Satz: „Und wenn dereinst mein Auge bricht, wenn mein Herz zu schlagen aufhört, o auch dann, lieber Josef, bitte für mich", weil er danach, im selben Leierton, den Stellenmarkt vorlas: „Ein braves Mädchen aus dem Sarntal sucht eine Stelle als Hausmädchen bei einer guten Bozner Familie", oder: „Eine kranke alte Boznerin sucht ein junges, gläubiges Mädchen aus dem Tal als Dienstmädchen", und das Wort „gläubig“ sollte bedeuten, daß die Arbeit um Gotteslohn sein sollte, aber manchmal waren auch andere Inserate dabei: „Eine gute Ehefrau bittet in schwerer seelischer Not um Fürbitte, daß ihr Mann wieder vom Weg der Sünde abkommt und zu ihr zurückfindet". Huiii! da ging aber die Phantasie los bei uns Jungs auf dem Chor, wo ist der Weg der Sünde? Gibt‘s da etwa eine Abkürzung? Und kann man da vielleicht auch hin? Und was spielt sich da wohl ab? Und der Edi vom Sopran machte das Fickzeichen, was uns nicht daran hinderte, mit treugläubigen Augen zum P. Konrad zu schauen.
Wenn P. Hubert als Gasttenor kam, dann war alles zu spät, er war wunderbar, er war dick und so war auch seine Stimme: strahlend, aber ein bißchen zu fett. Er sang „O Josef bitt für uns“ und bei der Wiederholung ging das so steil nach oben in die Pavarotti-Bereiche, daß er noch während des Singens nach Luft japste, den Ton abbrechen mußte, um ihn dann wieder neu anzusetzen, ein Naturschauspiel, das wir mit offenem Mund genossen.
 
P. Leopold also, das wußten wir bald, war besonders streng, bei dem kam man unter fünf Vaterunser nicht weg, möglicherweise kamen sogar zwei oder drei Engel-Des-Herrn noch obendrauf, wenn die Woche besonders sündig gewesen war. Einfach nur zwei Vaterunser beten und damit so tun, als hätte man keine Sünde abzubüßen, das hätte sich keiner getraut: Da schwebte schließlich eine riesige Jesusfigur im Fenster der Apsis und schaute einen an, überall waren Fresken, ehrwürdige gotische Flügelaltäre, die irgendwie Respekt einflößten. Aber vor allen Dingen wußte man nie genau, ob nicht doch irgendein Pater einen beobachtete und alles genau registrierte: „Fünf Vaterunser aufgehabt, aber nur zwei gebetet, na warte!“
 
Zu wem also gehen? Die Jungs aus der nächst höheren Klasse, die „Zwoatila“, kannten diese Nöte und halfen: „Es miaßt zin P. Augustin giahn, do ischis am günschtigschten“, aha, P. Augustin, der legendäre Deutschlehrer der Mittelschule bis Gymnasium, der so hilflos war, daß in seiner Stunde eine klassische Lausbubensportart gepflegt wurde: Papierflieger werfen, und das machte vor allem deswegen so viel Spaß, weil er immer den bestrafte, bei dem der Flieger landete. Ansonsten war P. Augustin eine lächelnde Seele von Lehrer mit heimlichem Hang zum Anarchismus - als braver und frommer Franziskaner war er ein glühender Verehrer von Heinrich Heine!
Im Beichtstuhl war er ein großer Verzeiher, der allerdings einen Nachteil hatte: Er war ein bißchen tearat, schwerhörig. Das aber hatten uns die Drecksäcke aus der Zwoatila natürlich nicht gesagt. Wir haben uns deshalb an dem Samstag, als wir in der Kirche zum ersten Mal vor dem Beichtstuhl von P. Augustin knieten, nicht gewundert, daß so viele Zwoatila ebenfalls da waren, werden schon auch auf die augustinische Milde angewiesen sein, dachten wir.
Kaum war aber der erste drin und flüsterte seine Sünden ins Gitter, dröhnte die Stimme von P. Augustin durch die Kirche:
„Wie oft? Allein oder mit anderen?“, und hinter uns Gekicher der Zwoatila, Kopfwenden der Erwachsenen, die vor anderen Beichtstühlen auf die Absolution warteten, kurz, die Blamage war grenzenlos. Mit hochrotem Kopf kamen die Sünder heraus und verkrochen sich zum Vaterunser in die nächste dunkle Ecke der Kirche, auf ewig der Lächerlichkeit preisgegeben.
Natürlich haben wir im Schuljahr darauf ebenso den „Earschtilan“ gesagt: „Es miaßt zin P. Augustin giahn, do ischis am günschtigschten.“
Das war also die Pflicht.
Dann kam die Kür. Am Neptunsbrunnen auf dem Obstmarkt mit dem Rosengarten im Blick war der Würschtlstand mit dem typischen Würschtlgeruch. S‘Würschtlmandl war ein kleiner, verwachsener Italiener, immer mit Schiebermütze, maximal ein Meter fünfzig groß. Er hockte gerne auf dem Fahrradsattel des Mopeds, an den die riesige Würschtlmaschine angebaut war, ein Wasserbehälter für die Würschtln, ein Korb für die Brötchen, ein Schüsselchen für den Senf. Ein Würschtl kostete 120 Lire, das waren damals ungefähr 95 Pfennig - 128 Lire waren eine D-Mark, was ich deshalb so genau weiß, weil ich oft genug meinem Papa fünf oder zehn D-Mark geklaut habe, die ich dann im Bozner Bahnhof wechseln ging …
Weil ich von meinem Bruder Hugo 150 Lire bekommen hatte, blieben nach dem Würschtl noch 30 Lire übrig für einen Khaki oder ein paar Briefchen Käschtelemehl oder ein paar Boxelen oder ein Eis oder vielleicht auch nur ein paar Zuckerlen.
Manchmal sparte ich, bis ich mir ein Präservativ kaufen konnte, aber das war eine eigene Geschichte, denn wir kauften es nicht, um es zweckentsprechend zu verwenden. Wir kauften es, um es in der Tasche zu haben und ab und zu diskret zu zeigen. Das langte, um zu beweisen, daß man die Mutprobe bestanden hatte. Und ganz vorne war, wer eines mit Reservoir dabei hatte.
Als Schüler des Franziskanergymnasiums konnte man natürlich kein Kondom in einer deutschen Apotheke kaufen, sofort hätten es, davon waren wir überzeugt, die Patres erfahren. Also mußte man in eine italienische Apotheke gehen oder wie ich - weil ich dem Braten nicht traute: im Kirchenchor in der Franziskanerkirche sangen auch Italiener mit, also Vorsicht! - in eine Art Kiosk am Dominikanerplatz, ein Lädchen, das voll war, wenn zwei Leute drin standen, und das ein Italiener führte. Ein kleiner, schlanker Mann mit einem Schnurrbart, den er mit dem Laser, hätte es ihn damals schon gegeben, geschnitten haben mußte, so schmal war der. Ein Meisterwerk. Zu ihm ging ich also ins Lädchen – natürlich erst dann, wenn keiner drin war – und raunte ihm „un profilattico“ zu. Dann bekam ich ein Kondom ohne Reservoir. Wollte ich aber eines mit Reservoir, mußte ich extra dazu sagen: „un profilattico con serbatoio“, das heißt, daß man sich da schon noch ein bißchen weiter aus dem Fenster lehnen mußte, was natürlich von den anderen dann auch besonders honoriert wurde.
 
In der ersten und ein bißchen noch in der zweiten Klasse hieß der Beichtausgang also wirklich in erster Linie beichten, Würschtln essen und ein bißchen Auslagen schauen. Manchmal lieh ich meinem Freund Peter aus St. Pauls auch zehn Lire, damit er sich eine Zigarette kaufen konnte, da waren wir aber schon zwölf und er durfte das. Er war von uns der erste, der rauchte, was ihm unbedingt Glaubwürdigkeit und Autorität verlieh. Ab und zu wagten wir dann auch schon einen Blick zu den Mädchen, das war aber noch nicht wirklich prickelnd.
Nach den Sommerferien nach der zweiten Klasse aber war plötzlich alles anders. Wir wurden dreizehn, ich hatte schon seit einem halben Jahr den Stimmbruch hinter mir, das Leben, das Testosteron und der Rock’n’Roll brachen über uns herein. Plötzlich war Bozen voller Frauen, wo waren die vorher denn alle gewesen? Das einzige Geräusch, das wir ab da hörten, war das Reiben der Strümpfe an Mädchenschenkeln und der Obstmarkt duftete nicht mehr nach Würschtln, sondern nach viel zu dick aufgetragenem Chanel No. 5 oder Tosca. Die Petticoats rauschten in den Lauben und die Strümpfe hatten Naht. Es war zum wahnsinnig werden, alle sahen wir die Naht an den Strümpfen und keiner wußte, wohin sie gehen. Sie folgten mathematischen Gesetzen: nicht denen der Parallelen, denn daß das keine Parallelen waren, das wußten wir natürlich auch, die treffen sich ja nicht mal im Unendlichen, nein, denn wir hatten in der Schule aufgepaßt und die Franziskaner hatten uns die mathematischen Grundlagen gut beigebracht, wir vermuteten, daß diese Nähte den Gesetzen des Strahlensatzes folgten. Wenn man also wußte, mit welchem Winkel die Naht an der Kante des Petticoats anstößt, dann wußte man in dem Moment, wo die beiden Nähte dieses gleichschenkligen Strahls sich treffen würden.
 
So liefen wir mit Kamm in der Hosentasche und Winkelmesser durch Bozen und schon in der Bindergasse, wo der Asphalt kochte, wenn wir pickeligen Pubertierenden das Antonianum verließen, holten wir den Winkelmesser heraus und liefen so hinter den Mädels her. Wußten unsere Lehrer, was sie uns da beigebracht hatten? Plötzlich war die Anatomie nur noch eine Frage der darstellenden Geometrie und die Geilheit eine Frage des Winkelmessers. Ab da wurde der Beichtausgang zum Trainingsfeld und ich der Vorausläufer, denn mir flogen die Mädchenherzen schneller zu als meinen Mitschülern.


In diesem Sinne
 
Ihr
Konrad Beikircher


©  2013 Konrad Beikircher für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker