Macht und Ohnmacht

Christiane Neudecker – „Boxenstopp“

von Jürgen Kasten

Macht und Ohnmacht
 
Vor ziemlich genau zwei Jahren stellten wir an dieser Stelle „Das siamesische Klavier“ vor, eine Kurzgeschichtensammlung voller „Poesie und Horror“, so unsere damalige Überschrift. Nun legte Christiane Neudecker im gleichen Verlag einen Roman vor, der in die Welt der Renn- und Sportwagenfahrer und die der gnadenlosen Vermarktungsstrategen der dazu gehörenden Fahrzeuge entführt.
 
Die Autorin schreibt als Ich-Erzählerin. Sie stellt sich als eine bundesweit bekannte Talkshow-Moderatorin vor, liiert mit einem international berühmten Geiger, den sie nur „P.“ nennt. Die Liaison ist zerbrochen. Zerbrochen sind auch ihr Lebensmut und ihr Elan. Irgendetwas ist geschehen, das ihre gesamte Persönlichkeit zerstört hat.
Wie in ihren Kurzgeschichten liegt auch in Christiane Neudeckers Roman ständig Unheil in der Luft, das lange nicht greifbar wird. In Rückblenden schält sich langsam heraus, was das Leben ihrer Figur zerstörte.
Während der Mann, der sie ins Unglück gestürzt hat, in München wegen Betrug und Korruption vor Gericht steht, kehrt sie an den Ort zurück, an dem das Unheil begann – das Autódromo Fernanda Pires da Silva in Portugal. Dort reflektiert sie das Geschehene.
Auch in diesem neuen Text überzeugt die Autorin wieder mit Detailwissen, das akribische Recherche voraussetzt. Seien es technische Schilderungen rund um das Rennauto, das Geschehen an den Boxen oder die Partys danach. Auf dem Autodrom wird ein deutscher Sportwagen einem internationalen Käuferpublikum sehr aufwendig präsentiert, umrahmt von Shows und Feiern. Im Mittelpunkt steht Kayser, der charismatische Konstrukteur und Firmenleiter. Neudeckers Protagonistin wurde engagiert, die wochenlange Show zu moderieren. Kayser hat seinen Blick auf sie geheftet. Er will sie haben. Nicht als Mensch, als Frau oder eloquente Moderatorin – als Sexobjekt. Dem versucht sie sich zu widersetzen. Auf welch perfide Art sie gebrochen wird, ihre Karriere, ihr gesamtes Leben zerstört wird, schildert der Roman spannungsvoll, eingeflochten poetische Schilderungen der Landschaft und des Seelenlebens der gequälten Frau.
 
Christiane Neudeckers Sprache ist von ungeheurer Präsenz und Eindrücklichkeit. Mit jedem Satz ist man bei ihr, voll im Geschehen. Dennoch überzeugt mich die Erzählung nicht vollständig. Der Plot, in Abschnitten genial, scheint mir im Ganzen überzogen zu sein. Überdies hätte eine kürzere, straffere Handlung mehr Wirkung gezeigt. Lesenswert ist das Buch trotz alledem, denn Christiane Neudeckers Stil ist hervorragend. Nicht ohne Grund wurde sie bereits mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet.
 
Christiane Neudecker – „Boxenstopp“
© 2013 Luchterhand Literaturverlag, 256 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-630-87317-6
18,99 (D) €, 19,60 (A) €, sFr 27,50
 
Weitere Informationen: www.luchterhand-literaturverlag.de