Bachs Bleistift

Eine interessante Erzählung

von Eugen Egner

Foto © Frank Becker

Bachs Bleistift

Endlich bin ich so weit, daß ich diesen Bleistift benutzen kann. Vorher mußte ich mich von meinem bisherigen Leben lossagen, Frau und Kinder verlassen, alles aufgeben und an einen abgelegenen Ort ziehen. Mehrere Jahre waren sodann noch abzuwarten und allergrößte Hemmungen zu überwinden, bis ich in der Lage war, den Stift zu berühren und endlich gar in die Hand zu nehmen. Inzwischen habe ich schon ganz vorsichtig ein paar gerade Striche damit gezogen, am Lineal entlang, aus Ehrfurcht vor Bachs Fugenwerk.

Bach hat das erste seiner Brandenburgischen Konzerte nicht nur mit diesem Bleistift, sondern tatsächlich auch auf diesen Bleistift geschrieben. Meines Wissens gibt es in der gesamten abendländischen Musik- und Geistesgeschichte nichts Vergleichbares. Wiederholt hat sich die Wissenschaft die Zähne daran ausgebissen. Das Nachdenken über einen so schwer faßlichen Tatbestand und den ihm zugrundeliegenden schier unvorstellbaren Vorgang hat u.a. Douglas Hofstadter seinerzeit dazu gebracht, das berühmte Buch „Goedel, Escher, Bach“ zu verfassen (eine dem Stift beigefügte, notariell beglaubigte Expertise belegt es). Zum Glück hat Hofstadter das dicke Buch nicht mit diesem Bleistift geschrieben, sondern am Computer getippt. Den Stift, der in „Goedel, Escher, Bach“ auch keinerlei Erwähnung findet, hatte er zum Zeitpunkt der Niederschrift schon verärgert weggeworfen, weil er, wie er einmal zu Protokoll gab, fürchten mußte, „irre zu werden an dem Scheißding“. So konnte der wertvolle Gegenstand auf nie zu rekonstruierenden Umwegen schließlich zu mir finden.

Als ich mich einmal in einer schwierigen, ja ausgesprochen krisenhaften Lebenssituation befand, schenkte mir jemand den Stift. Die Identität des Schenkenden ist ebenso in Vergessenheit geraten wie die näheren Umstände der Schenkung. In meiner damaligen Lage konnte ich weder die Zeit noch die Kraft erübrigen, mich dem außergewöhnlichen Präsent zu widmen. Zudem hinderten mich die eingangs erwähnten Hemmungen daran, es einer praktischen Anwendung zuzuführen. Nachdem ich es eine Weile ehrfürchtig in Händen gehalten und betrachtet hatte, fühlte ich mich überfordert und versenkte das ehrfurchtgebietende Objekt in einer Schublade voller Gerümpel. In deren Dunkel ruhte es dann unangetastet für einige Jahre. Während dieser Jahre beschäftigte ich mich aufs angelegentlichste mit gänzlich anderen Dingen, und so konnte es nicht ausbleiben, daß der Bleistift in Vergessenheit geriet. Über diese gänzlich anderen Dinge, mit denen ich mich seinerzeit beschäftigte, ist in gewissen Kreisen viel und, wie ich leider sagen muß, auf denkbar alberne Weise spekuliert worden. Goedels Grammophon war da ebenso im Gespräch wie Eschers Ersatzhemd, doch beide Vermutungen waren, wie übrigens auch alle übrigen, grundfalsch. Die Tatsachen waren um ein Vielfaches komplizierter. Obwohl ich mir dessen bewußt bin, daß hier nicht der geeignete Ort dazu ist, möchte ich doch die Gelegenheit zu einer Richtigstellung ergreifen: Ich war in eine Affäre mit einer Betrügerin verwickelt, die behauptete, vormals das Klavier von Brahms gewesen zu sein. Auf den historischen Aufnahmen, mit denen sie den Beweis zu führen trachtete, waren nur bellende, jaulende Geräusche zu hören.


Wer an dieser Stelle keine Neigung mehr empfindet, die Geschichte weiterzuverfolgen oder zumindest eine Pause zur Verarbeitung der Eindrücke einlegen möchte, kann ja ein wenig kochen. Ich hätte dafür vollstes Verständnis, koche ich doch selbst beinahe jeden Tag ein wenig: Eßbare Dinge müssen für viel Geld besorgt, mühsam zerlegt und irgendwie unter Hitzeeinwirkung neu kombiniert werden. Hier empfiehlt sich die vorherige schriftliche Ausarbeitung eines präzisen Plans (Rezept). Dazu braucht man Schreibgerät, etwa einen Bleistift. Wen wundert es also, daß ich in exakt dieser Lage die Gerümpelschublade nach einem Kugelschreiber durchwühlte und unversehens wieder auf Bachs Original-Bleistift stieß! Beim Anblick des darauf notierten Brandenburgischen Konzerts fiel mir alles wieder ein. Ich vergaß das Kochen, holte ein Lineal und begann, gerade Striche zu ziehen. Damit hörte ich aber sogleich wieder auf, denn mir wurde klar, daß jeder Gebrauch des Stifts unweigerlich zum Anspitzen führen muß, wodurch Bachs Autograph der Partitur nach und nach vernichtet wird. Es ergeht mir wie Hofstadter. Um nicht irre zu werden an dem Scheißding, werfe ich es zurück in die Gerümpel-Schublade. Damit ist dieses Thema erledigt.


© Eugen Egner 2007