Ein Lehrer des rechten Umgangs
zwischen den Völkern. Hermann Schulz zum 75. Geburtstag
Hermann Schulz ist kein Diplomat, Politiker oder Journalist, der kraft seines Amts oder Berufs zur internationalen Verständigung beigetragen hat. Er ist nicht in öffentlichem Auftrag tätig geworden. Er hat keine Schlagzeilen produziert. Sein Wirken ist leiser, aber tief gehend.
Es sind seine Bücher, durch die er wirkt, Bücher, in denen er Begegnungen in Afrika, der Türkei, in Weißrußland eingefangen hat, und es ist seine Stimme, eine Stimme, der man glaubt, was sie vorträgt. Mit beiden, mit dem Einsatz seiner Stimme und den Büchern, hat er zahllose Hörer fasziniert, Jugendliche wie Erwachsene, hat er vor ihren Augen das Schicksal eines türkischen Migranten („Iskender“) wiederaufleben lassen oder den verzweifelten Versuch eines in Ostafrika tätigen Missionars, seine kleine kranke Tochter zu retten („Auf dem Strom“), und viele andere Schicksale.
Jedes Mal geht es im Kern um das Aufeinanderstoßen verschiedener Kulturen, der anatolischen auf die deutsche, der afrikanischen auf die europäische. Da wird nichts verwischt. Die Verschiedenartigkeit wird nicht aufgehoben. Aber da die Protagonisten seiner Romane die Sprache der Menschlichkeit sprechen, die der Fremde so gut spricht wie der Einheimische, gibt es Verstehen, Einfühlen, Mitleiden.
Seine Geschichten führen nicht ins Reich der Fantasie, es sind realistische Erzählungen von Begebnissen, die jedermann zustoßen könnten. Leser und Zuhörer werden nicht entführt in erfundene Welten, sie bleiben auf dem Boden der Welt, wie sie ist. Schulz führt seine Leser und Zuhörer zur Begegnung mit dem Fremden. Das geschieht ganz ohne Belehrung, nur auf dem Wege der Erzählung von menschlichen Begebenheiten.
Die Faszination, die Schulz auf Jugendliche wie Erwachsene ausübt, hat sich herumgesprochen. Kaum eine Woche, in der er nicht ein oder mehrere Tage unterwegs ist auf Lesereisen, mal nach Rostock, mal nach Zürich oder Wien, aber auch in der sachsen-anhaltinischen Kleinstadt Senftleben hat er schon gelesen. Fast immer sind es Schulklassen, vor denen er liest. So hat er zahllosen Jugendlichen den fremden Mitmenschen nahe bringen können, nicht selten schmunzelnd, er hat ihnen gezeigt, wie kulturelle Verschiedenheit in Mitfühlen und Verstehen verwandelt werden kann. Weil er ja „nur“ erzählt, wirken seine Geschichten tiefer als unmittelbare Belehrung.
Solche Arbeit für das Verstehen zwischen den Völkern wäre nicht möglich ohne intensive eigene Erfahrung, erworben auf zahlreichen Auslandsreisen, die stets reiche Ernten einbrachten, Entdeckungen wichtiger Künstler, lebenslange Freundschaften, Gründungen von Kulturmittelpunkten. Vielleicht war es der Geburtsort, der ihn immer wieder in die Ferne trieb. Und die bigotte Enge seiner Kindheit und Jugend.
Am 21. Juli 1938 als Sohn eines evangelischen Missionars in Ostafrika geboren, verbrachte er seine Kindheit zunächst im Wendland, dann am Niederrhein − unter der Obhut der verwitweten Mutter, der Vater war schon 1939, gleich nach der Rückkehr aus Afrika, gestorben. Die Mutter war arm, lebte von Kostgängern. Da hat der Sohn früh arbeiten und durchhalten gelernt. Als Gedingeschlepper im Bergwerk, als Lehrling in einer Buchhandlung.
Doch das enge Leben mit der Mutter und den Geschwistern ließ keinen Raum für seine Unruhe. Er nahm die erste Gelegenheit wahr, um auszubrechen. Noch bevor die ersten Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen, fuhr er in die Gegenrichtung. In der Türkei arbeitete er wieder im Bergbau, dann an einem Gymnasium. An der Schule gab es nur ein einziges Buch für den Deutschunterricht. Er begann kleine Geschichten für die Lehrer aufzuschreiben, Geschichten über das Land und die Leute, erste Regungen eines Schreibtalents.
Vermutlich wäre er länger in der Türkei geblieben, hätte er nicht 1960 − während eines kurzen Besuchs in Deutschland − Mutter und Bruder schwer krank vorgefunden. Er suchte einen Arbeitsplatz in der Nähe und fand diesen bei Johannes Rau, der damals den Wuppertaler Jugenddienstverlag leitete. Als Rau 1967 ausschied, wurde Schulz Leiter des inzwischen in Peter Hammer Verlag umbenannten Verlags. Das politisch und konfessionell engagierte, interkulturelle Verlagsprogramm, das eine Plattform sein wollte für Autoren aus Afrika und Lateinamerika, erlebte seinen Höhepunkt mit dem Autor Ernesto Cardenal.
So wie es selbstverständlich für ihn war, seine Autoren persönlich zu kennen, wollte Schulz auch Cardenal kennen lernen. Als er ihn 1967 in Nicaragua besuchte, begann nicht nur eine Freundschaft mit dem Dichter, sondern auch eine emotionale Beziehung zu dem Land. „Hermann Schulz verliebte sich so sehr in Nicaragua, daß er sich − sehr konsequent – auch in die Revolution verliebte. Seit dem ersten Aufstand, an dem wir Freunde von ihm teilgenommen hatten, ergriff er die Initiative und gründete Solidaritätskomitees in Deutschland“, schreibt Cardenal zum 70. Geburtstag von Hermann Schulz (SZ, 21. 7. 2008). Schulz erwiderte den Geburtstagsgruß, indem er die Laudatio hielt, als Cardenal 2010 in Wien das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse erhielt.
Untergründig suchen beide Autoren nach Wegen des Umgangs mit den Verletzungen, die der lateinamerikanische Kontinent durch die westeuropäische Kolonisation erfuhr. Sie wissen, daß sich die Wunden nicht heilen lassen. Nur ihre Auswirkungen lassen sich begrenzen. „Er hat die Erniedrigten und Beleidigten, die Vergessenen und Schwachen in ihre Rechte gesetzt und ihnen Würde und Sprache zurückgegeben“, sagte Schulz in Wien über den Freund. Und er fährt fort: „Sein Werk ist aber kein Aufruf an die Völker der südlichen Kontinente, Vergeltung für die Verbrechen von millionenfacher Sklavenverschleppung, kolonialer Unterdrückung und wirtschaftlicher Ausplünderung zu suchen, sondern sich dieser Vergangenheit zu stellen, sie zu benennen, sie zu akzeptieren als Teil der gemeinsamen Geschichte – und Wege zu suchen, eine gemeinsame menschenwürdige Zukunft zu gestalten.“
Das Land seiner Geburt sieht Schulz erst 1976 wieder. Da ist er schon achtunddreißig und bereist Afrika auf der Suche nach neuen Autoren. Die Beziehung zu diesem Kontinent wird zum wichtigsten Bezugspunkt der Romane, die er von 2001 an, nach der Abgabe der Verlagsleitung, zu schreiben beginnt. Vielleicht sind es die in Afrika deutlicher noch als in Lateinamerika wahrnehmbaren Spuren der Kolonialzeit, die sein Schreiben antreiben, ohne daß sie selbst ausdrücklich zum Thema gemacht werden. Ein mindestens ebenso starker Motor ist aber die Freude an den Menschen dieses Erdteils. Die hinterließ zuletzt ihre heiteren Spuren in „Mandela & Nelson“, Band I und II, in denen eine afrikanische gegen eine deutsche Jugendmannschaft antritt, erst in Bagamoyo, Tansania, dann im Rückspiel in der Fußball-Hochburg Dortmund. Ein Stoff, so recht dazu geschaffen, um ganz nebenbei den rechten Umgang zwischen Einheimischen und Fremden erleben zu lassen.
Wolf Christian von Wedel Parlow, Wuppertal Juni 2013
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