Die aufsässigen Frauen

von Karl Otto Mühl
Die aufsässigen Frauen

Der heutige Tag besteht hartnäckig darauf, ein neuer Tag zu sein. Die Welt blickt erwartungsvoll, die gewohnten Kaffeegenossen sind wieder einmal nicht erschienen, die Rentner sitzen behäbig vor dem Schaufenster in der Morgensonne und grüßen mich flüchtig. Nichts erscheint sicher. Es herrscht Unklarheit über den weiteren Fortgang. Über einen rätselhaften, blauen Himmel ziehen ungerührt weiße Wolken.
 
Ich habe begonnen, die Zeitung zu lesen, als sich die Situation ändert. Eine junge, vitale Frau erscheint. Sie erzählt von gräßlichen Mitteln, es sind solche des Ekels, mit denen sie eine böse Schwiegermutter aus der Wohnung vertrieben hat. Ich weiß noch nicht, welche von beiden Frauen mehr zu fürchten ist.
Knatternd braust draußen ein Motorroller heran. Eine sportliche Mittsiebzigerin steigt ab und kommt zu uns. Ohne Sturzhelm erkenne ich sie jetzt, ich kenne sie ja schon lange.
Das Gespräch kreist nun ohne Unterbrechung weiter um Männer, und wie man sie behandeln muß. Beide Damen sind sich einig, daß sie schwer erträglich sind. Darum hat die Rollerfahrerin ihrem ersten Mann nach einem Jahr Ehe eine Freundin verordnet und sich scheiden lassen. Jetzt wohnt sie mit einem neuen, gutmütigeren Mann teils in der Nähe, teils im Wohnwagen.
Abends das Essen für so einen bereithalten? Nein! Sich einschränken lassen? Niemals! Da sind sich beide Frauen einig. Ich staune über soviel Fortschritt. Erstaunt sind beide über einen gewissen Wilhelm von Achtundsiebzig, der glücklich mit seinem Wohnmobil in Europa herumfuhr und jetzt zu einer Wilhelmine gezogen ist, und jetzt machen sie alles zu Zweit. Und das in diesem Alter, wo man endlich selbstständig werden sollte!
 
Ich werde keinerlei Erstaunen zeigen, habe ich mir vorgenommen. Obwohl ich mich heimlich frage, wo, verflucht, denn nun die züchtigen Hausfrauen geblieben sind.
Manche fahren manchmal nach Frankreich, weiß ich seit gestern. Reinhold aus Bonn, Einundachtzig, hat mir am Telefon berichtet, daß seine Freundin Freya, Sechsundsiebzig, wieder einmal nach Chatou bei Paris gefahren ist, um den Jugendfreund zu besuchen, an dem sie immer noch hängt. Es fällt Reinhold schwer, mit dieser Tatsache umzugehen. Als Mann müßte er eigentlich wissen, daß man den unteren Weg zu gehen hat.
Ein Philosophenfreund sagte mir einen Satz, den er wiederum von jemand anders hat: Ein Problem kann nie auf der Ebene gelöst werden, auf der es entsteht.
Und ein Familientherapeut, vielleicht kein Philosoph, soll gesagt haben: Die Frau muß dem Manne überall hin folgen, aber der Mann muß der Frau dienen.
Das sind Worte von historischer Bedeutung. Ich werde mich hüten, eine Meinung dazu zu haben.
 
Aber jetzt Schluß mit den Scherzen! Wie verträgt sich diese Art von Leben mit unserem  stillen Wunsch nach der Traurigkeit des Loslassens und nach Innigkeit, die das Leben vollständig machen?
Die Gräser am Bachlauf in der Waldschlucht glitzern, wenn sie ein Sonnenstrahl trifft. Sie säumen die Bühne noch, wenn es wieder still geworden ist und wir den wilden Tanz unseres Lebens beendet haben.
 
 
© 2013 Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern