Sommertag

von Karl Otto Mühl
Sommertag
 
Mein Freund hat mich auf seiner Reise bis ins Ruhrgebiet mitgenommen und dort bei Markus abgesetzt. Selbst fahre ich nicht gerne so weit allein. Die Beine wissen längst, daß sie Neunzig sind.
 
Markus wohnt in einem sehr schmalen Reihenhaus, aber tagsüber ist er natürlich an seinem Arbeitsplatz. Er ist Museumsaufseher, ein Teilzeit-Job. Das macht er, weil er von den gelegentlichen Hörspielen, die er schreibt, nicht leben kann. Aber auch jetzt reicht es eigentlich nicht.
Seine Frau hat ebenfalls einen Beruf, von dem man nicht leben kann, sie hält Eröffnungsvorträge zu Gemälde-Ausstellungen, aber auch zu Literaturveranstaltungen.
Obwohl sie schon fünfzehn Jahre verheiratet sind, sehe ich im Hausinneren nur die unvermeidlichsten, preiswerten Möbel. Ich glaube, die beiden sind arm.
 
Markus habe ich bisher erst zweimal getroffen, jetzt hat er mich in seinen westfälischen Ort eingeladen. Ich erlebe, wie es ist, wenn man studiert hat und trotzdem arm ist. Er jobbt nicht, er antichambriert nicht bei Redakteuren, er schreibt keine Werbetexte, er ist einfach arm und wütend. Manche werden sagen, daß er zu phlegmatisch ist.
Über alle diese Dinge reden wir. Natürlich weiß er oder merkt er, daß ich von einer meiner Rente lebe. So etwas wie mich wird es immer seltener geben. Ein Land geht aufrecht, aufgeklärt, merkwürdigerweise guten Gewissens und wachsam, seinem Niedergang entgegen, und ich behaupte nicht, daß es zu vermeiden wäre.
Auf dem Tisch stehen einige Kuchenstückchen und Mineralwasser. Die träge Nachmittagssonne spielt draußen auf dem kleinen Rasenfleckchen. Wir haben nichts als uns, nicht einmal Absichten haben wir, der Zufall hat uns zusammengeführt.
Markus ist kaum halb so alt wie ich. Aber nach und nach fällt mir auf, daß wir einander vertrauen und einander nichts vormachen. Ich glaube, wir werden auch weiterhin miteinander zu tun haben.
 
Markus begleitet mich im Bus zum Bahnhof und dann zum Zug. Seine Hünengestalt steht bis zur Abfahrt vor dem Zugfenster.
Und nun fahre ich im Regionalzug in eine für mich namenlose, grüne, unaufdringliche Landschaft hinein. Über diese Augenblicke hatte mir vorgenommen, diese Tagebuchnotiz zu schreiben, weil ich schnell fühlte, daß es unvergeßliche Augenblicke in meiner Erinnerung bleiben würden: Ein alter Mann allein in einem fast menschenleeren Großraumwagen, den warme Nachmittagssonne erfüllt. Draußen eine menschenleere Landschaft. Im Augenblick sehe ich kein Weidevieh.
Scheinbar unbeweglich sitzen verteilt im sanft ruckelnden Wagen drei oder vier schweigende Gäste. Es könnte eine Szene aus einem Film sein, die das Gefühl ewigen Stillstands erweckt; aber merkwürdigerweise auch die Ahnung, ein Meteor könne im nächsten Moment die Erde in einen Feuerball verwandeln. Wobei ich wiederholen muß, daß es mir wahrscheinlich egal wäre, wenn doch alle auf einmal verschwinden.
Der Zug sägt sich durch das Grün. Es dürfte von mir aus noch lange so weiter gehen, denn die Ewigkeit hat ja ohnehin schon begonnen.
 
Nach zwanzig Minuten lande ich aber schon im winzigen Bahnhof eines anderen, winzigen, westfälischen, Ortes, wo mich mein Freund erwartet, der hier zu einer großen Geburtstagsfeier eingeladen war. Ich möge noch für eine Stunde dazu kommen, meint er.
Als wir nach einigen Minuten an einer Art herrschaftlichem Landsitz ankommen, ahne ich, daß ich eine andere Welt als meine alltägliche sehen werde.
Und so ist es. Wie bei einem Blitzlicht sehe ich mich plötzlich als Sechsjährigen für einige Tage bei meiner Großmutter, die in einem großen Arbeiterhaus in zwei Zimmern wohnte. Hier war mein Vater und hier waren seine zwölf Geschwister ausgewachsen; nicht alle auf einmal, aber doch immer mehrere. Eine Witwe und ein Witwer hatten einander geheiratet.
Die Freude des Morgens war eine Tasse Kathreiner-Kaffee, der Höhepunkt dieser Tage war eine Paddelfahrt mit meiner Tante auf dem Dutzendteich. Die Familie bestand aus Arbeitern. Außer dem Nötigen wurde selten etwas gekauft.
 
Und nun betrat der Kleine, der ich gewesen bin, einen kleinen Park hinter dem Haus – und überall sah er Herrschaften in sommerlichen Kleidern mit Gläsern oder Tellern in der Hand. Auf dem Rasen waren Buffets aufgestellt, Angestellte servierten oder räumten Geschirr ab, eine Stargeigerin spielte auf einer echten Stradivari wunderschöne Melodien, Kiepenkerle in blauen Kitteln traten auf und rezitierten.
Ich setzte mich auf eine Couch unter einem Sonnendach und wurde von einem Herrn ins Gespräch gezogen, der mir die Unzulänglichkeit von Ordinarien an Universitäten schilderte. Er selbst war Chefarzt.
Unser Kleiner hörte mit ernsthaftem Gesicht einem Biologen zu, der aber nichts Biologisches berichtete, sondern über Stephen William Hawking und die Stringtheorie sprach – und er wunderte sich weiterhin, wie leicht man manchmal in fremde Welten gleiten kann; Welten, in denen er nie wirklich gelebt hatte oder leben würde.
Jetzt, im Alter, war es nicht einmal mehr sehr aufregend. 
 
 
 
© 2013 Karl Otto Mühl – Erstveröffentlichung in den Musenblättern
Redaktion: Frank Becker