Auf der Suche nach moralischen Instanzen

Hermann Schulz – „Warum wir Günter umbringen wollten“

von Frank Becker

Eine ernste Sache
 
Sich die gesellschaftlichen Zustände zwischen 1945 und 1947 vorzustellen, ja sich in sie hineinzudenken – namentlich auf dem Land - wird einem jungen Menschen heute sehr, sehr schwerfallen, zumal wenn er/sie ein Stadtkind ist. 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der vollständigen Niederlage Deutschlands und der bedingungslosen Kapitulation. Viele Väter waren als Soldaten gefallen, in Gefangenenlagern umgekommen oder noch verschollen. Weite Teile vom Osten Deutschlands wurden von Rußland und Polen annektiert, ganze Landstriche durch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung entvölkert. Schreckliches Elend und grauenhafte Erlebnisse mußten die in endlosen Trecks nach Westen fliehenden Frauen, Kinder und alten Männer ertragen, bis sie – oft unwillkommen – im verbliebenen Rest Deutschlands ankamen und häufig auf dem Land in Dörfern und auf Bauernhöfen vorläufig einquartiert wurden.
 
Entwurzelt, heimat- und oft vaterlos, ohne moralische Orientierung, gezeichnet von den Schrecken der Flucht aus den verlorenen Ostgebieten und – als hätte das nicht genügt – auch von den Einheimischen mit Mißtrauen betrachtet, mußten auch die Kinder mit der Lebenssituation zurechtkommen. Hier setzt Hermann Schulz´ neuer Jugendroman an. März 1947. Eine Zeit zwischen Krieg und Frieden. Für Freddy und seine Freunde in einem Dorf südlich von Lüneburg hat die Schule wieder begonnen. An den Nachmittagen stromern sie, wenn sie nicht ihren selbstverständlichen Anteil an der Landwirtschaft leisten müssen, durch die Wiesen und Wälder, auch zum Moor, wo noch Torf gestochen wird. Auch der stille Flüchtlingsjunge Günter schließt sich der Clique unaufgefordert an, läßt sich nicht verjagen. „Der tickt doch nicht richtig“, sagen die Jungs über ihn. Denn Günter ist aufgrund einer schlecht ausgeheilten Hirnhautentzündung „anders“. Freddy und die anderen Jungen, allen voran ihr Anführer Leonhard, machen sich über ihn lustig, sie demütigen und quälen und ihn. Als sie das Maß überziehen und fürchten müssen, daß Günter sie bei den Erwachsenen verraten könnte – was für einige ernste Konsequenzen haben würde - fassen sie den ungeheuren Plan, Günter zu töten und ihn im Moor zu versenken.
 
Hermann Schulz (*1938) hat mit „Warum wir Günter umbringen wollten“ ein sehr mutiges Buch geschrieben, mit dem er den Finger in eine für viele bis heute nicht verheilte Wunde legt, die aus der vaterlosen Zeit herrührt, in der Strenge aus der Not der Zeit oft mit Erziehung verwechselt wurde. Die Suche nach moralischen Instanzen, das Erkennen von Schuld und Verantwortung, das Abwenden von Gewalt als einzig mögliche Lösung von Problemen bestimmen diesen Roman. Auch die Auseinandersetzung mit der möglichen Schuld von Soldaten vor dem noch frischen Hintergrund des alles verändernden Krieges und der jetzt zu allen durchdringenden Wahrheiten über die Morde an Juden und „Minderwertigen“ spielen eine wesentliche Rolle, lassen sich die Jungen von der noch nicht überwundenen menschenverachtenden Ideologie des Dritten Reiches beeinflussen. Daß Günter sich als kluger, patenter Junge entpuppt, Freddys Schulkameradin Luise, sein Vetter Fritz und der Kriegsheimkehrer Willi gerade Linien durch das Gefühlschaos ziehen und sich einige Erwachsene als unerwartet verständnisvoll zeigen, sorgt für die versöhnliche Note dieses aufregenden, weil erschreckend ehrlichen Buches, das man atemlos, ohne abzusetzen in einem Zuge liest.
Die oft doppelseitigen Illustrationen von Maria Luisa Witte geben der beklemmenden Atmosphäre wie den frühlingshellen Passagen des Romans ein Gesicht. Seit „Flucht durch den Winter“, „Sonnennebel“ und „Iskender“das fesselndste Buch des Wuppertaler Autors.
Dafür unsere Auszeichnung: den Musenkuß.
 
Hermann Schulz – „Warum wir Günter umbringen wollten“
© 2013 Aladin Verlag, 159 Seiten, geb. m. Schutzumschlag, Illustrationen von Maria Luisa Witte – ISBN 978-3-8489-2017-4
14,90 €
 
Weitere Informationen: www.aladin-verlag.de