Wortloser Rat

Eine nachdenkliche Erzählung

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker
Wortloser Rat
 
Rübsam hatte zum achtundachtzigsten Geburtstag seiner ältesten Schwester kommen wollen, aber aus dem Geburtstag war nichts geworden, denn sie war an Grippe erkrankt. Zwar hatte sie am Telefon gesagt, er möge nicht kommen, er sei zwar noch jung, aber ab Sechzig müsse man auch schon ruhiger leben, er solle sich schonen. Doch Alfons Rübsam war, um es behutsam auszudrücken, ein übervorsichtiger Mensch, der immer gleich mit dem Schlimmsten rechnete. Darum hielt er für besser, doch zu ihr zu fahren.
Er selbst bestand eigentlich stets auf vollkommener Gesundheit. Wenn beispielsweise sein Arzt zu ihm sagte, dies oder das sei besser geworden, so war ihm das bei weitem nicht genug. Er bestand auf völliger Gesundheit, möglichst sogar Unsterblichkeit.
„Hast vielleicht denkt, ich komm gleich um?“ sagte die Schwester, als er zu ihr ins Zimmer trat.
Zum Geburtstag war nur ihre alte Freundin erschienen, eine Feier sollte es erst später geben, wenn sie nicht mehr bettlägerig war. Sie selbst hatte am Telefon gesagt: „Ich hab keine Angst davor, einmal ruhig einzuschlafen. Natürlich jetzt noch net. Ich tät ohne Reue gehen“.
Bestimmt hatte sie damit nicht sagen wollen, sie wolle irgendwelche Übeltaten oder Laster nicht bereuen, sie hatte gewiß „Bedauern“ sagen wollen. Es war dies eben ihre Ausdrucksweise, die sie aus Schlesien oder Schwaben mitgebracht hatte, wo sie in den Jahren nach der Vertreibung gelebt hatte.
Rübsam saß nun wieder neben dem Bett der schweigenden Schwester und versuchte, sie zu unterhalten. Die Kinder, die Schule, der Stress, die Einladung zu Dr. Ehrenwirth, ihrem Großkunden, die Bitte des Bürgervereins, doch eine Funktion zu übernehmen, die Spende fürs Hospiz, die Belästigungen durch die Spendensammler, Stress, Stress, Stress; die ständige Unruhe, verursacht dadurch, daß sich Ehefrau und erwachsene Kinder sich nicht an seine Anweisungen zur Ordnung hielten, obwohl er überall im Hause Zettel angebracht hatte wie: „Altpapier sorgfältiger falten“; „Keine unsauberen Flaschen und Gläser in den Altglaskorb“, Morgens das Licht ausschalten“, „Immer nur eine Viertelstunde lüften“ – „Ist doch richtig?“ fragte er die alte Dame.
Es war ein sonniger Tag. „Schön, die Sonne, net!“ sagte sie. Ihre Augen glitzerten im Licht. „Schau, da! Des Eichhörnloa schaut direkt zu uns im Zimmer. Des mecht oa Ansprach.“
Dann wandte sie sich ihrem Bruder zu und fragte schon wieder, warum er gekommen sei. „Hast dermaßen Sorg um mich?“
Keine Spur davon, versicherte Rübsam. Sie sei doch fast schon wieder gesund.
„Warum bist dann gekommen?“
„Ich glaub, ich kann von dir lernen.“
„So? Was denn?“
„Daß wir Zeit haben. Ich seh es ja. Auf einmal hast du ganz viel Zeit. Bist du wirklich zufrieden?“
„Ich find alles wunderbar,“ sagte sie lächelnd. „Ich hätt nie gedacht, daß man so viel Zeit bekommt.“ Rübsam schaute sie an, immer noch ungläubig.
„ Doch, wirklich!“ versicherte sie.
Bruder und Schwester blickten sich stumm an, Er mochte noch nicht weiter fragen, er spürte die Wärme in ihrem Blick. Sie wird fromm geworden sein, dachte er. Aber sie spricht nicht darüber.
„Weißt, das muß jeder selber rausfinden. Ich sag jetzt nix weiter dazu.“
 
© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007
 
Karl Otto Mühl, * 16.2.1923 in Nürnberg
Dramatiker (Auswahl: "Rheinpromenade", "Rosenmontag", "Die Reise der drei alten Männer", "Kur in Bad Wiessee", "Wanderlust", "Kellermanns Prozeß", "Ein Neger zum Tee")
Prosa-Schriftsteller (Auswahl: "Trumpeners Irrtum", "Siebenschläfer", "Nackte Hunde", "Hungrige Könige") - Lyriker
 
Weitere Informationen: www.nordpark-verlag.de