Zeuge der Reichskristallnacht

Rudolf Engel liest in Baden-Baden aus: Dreimal „Heim ins Reich“ und zurück

Red./Bec.

Zeuge der Reichskristallnacht
 
Autorenlesung zur Deutschen Zeitgeschichte in der Galerie ZeitKunst
Baden-Baden,Geroldsauerstr.15
 
Am Samstag dem 09. November 2013, um 17.00 Uhr liest Prof. Dr. Rudolf Engel Auszüge aus  seinem Buch:
„Dreimal Heim ins Reich und zurück“

Darin wird auf eindrucksvolle Weise geschildert, wie der damals 7-Jährige als Augenzeuge die dramatischen Ereignisse der sog. „Reichskristallnacht“ vom 09. November 1938 erlebt hat. 
 

9. November 1938
 
Wej de Kronleuchter vun der Synagoch ronnerkomm äas
 
Das Schreckliche dieser Nacht war damit noch nicht alles. In der Schule konnte ich überhaupt nicht bei der Sache sein; aber unser Fräulein war es auch nicht. Am Ende des Unterrichts sagte sie, wir sollten sofort nach Hause gehen und nirgends stehen bleiben. Aber an einer bestimmten Stelle bin ich dann doch stehen geblieben, denn dort ist dann die andere Geschichte passiert:
 
Mein Heimweg von der Schule führte an der Synagoge vorbei. Bis zu jenem Tag war uns katholischen Kindern nie vergönnt gewesen, in dieses jüdische Gotteshaus, das stets verborgene Geheimnis der andersgläubigen Dorfbewohner, hineinzuschauen. Jetzt aber stand das obere Portal in seinem romanisch gewölbten Tor sperranglenweit offen, und man konnte von der Schwelle aus über die Empore hinweg in einen einzigen, fast quadratisch großen Raum hinuntersehen.
Und da unten waren wieder Männer in braunen Uniformen mit der Hakenkreuzbinde am Arm. Sie waren dabei, die ganze Einrichtung des geweihten Ortes mit ihren Äxten zu zerschlagen. Eine Gruppe der SA-Leute machte sich an dem riesigen Kronleuchter zu schaffen, der mitten über dem Raum von der Decke hing und in tausend Glaskristallen glitzerte, in meinen Augen das Kostbarste, was ich bis dahin je gesehen hatte.
Unten par-terre bot sich bereits das Bild wüster Zerstörung. Auf den Trümmern standen in wichtig-tuender Haltung einige Uniformierte herum und schauten gespannt nach oben, wo von der Empore aus weitere SA-Leute sich so eifrig mit dem Kronleuchter befassten.
Zwei der Männer versuchen, mit einer langen Stange, an dessen entferntem Ende ein eiserner Widerhaken befestigt ist, an die Aufhängung des Kronleuchters heranzukommen. Nach einiger Zeit gelingt es ihnen, den Haken in das Gewirr von Kristallteilchen einzuführen, den Kronleuchter zu erfassen und durch heftiges Hin- und Herbewegen zum Schaukeln zu bringen. Jede Schwingung des mächtigen Leuchters wird von den SA-Leuten, die unten im Raume stehen, inzwischen aber alle seitlich an die Wände zurückgewichen sind, mit einer Salve hellen Gekröhls bejubelt, bis sich endlich das klirrende Riesenpendel soweit aufschaukelt, daß es aus dem Haken in der Decke ausklingt, zu Boden stürzt, mit einem zerreißenden Geklirr aufprallt und in tausend Stücke zerschellt...
 
Einige meiner Schulkameraden, unter denen die Ereignisse dieses 9. Novembers noch eine zeitlang danach besprochen wurden, zeigten sich von diesen Geschehnissen weniger bedenklich gestimmt, sondern eher belustigt, vor allem über die plötzliche Enthüllung des Synagogengeheimnisses und den spektakulären Sturz des großen Kronleuchters.
Ich aber spürte, daß mit diesem Urknall mutwilliger Zerstörung in mir etwas zerbrochen war und zwar für immer; zerbrochen war die Illusion, die mir das Leben bis hierhin vorgaukelte, alle Menschen, zumindest die Erwachsenen, seien von Grund auf gut, seien uns Kindern gegenüber nur darauf bedacht, eine wohlbehütete friedliche Welt zu schaffen und uns vor jeglichem Unheil zu bewahren. Nie war ich bisher mit offenem Unrecht und roher Gewalt konfrontiert worden, und das nun auf einen Schlag so unvermittelt, so eindringlich und doch so unverständlich, daß ich damals nicht anders wohl konnte, als es zu verdrängen, ohne es jemals zu vergessen.
Voller Schreck und Entsetzen starrte ich damals wie gebannt auf den Scherbenhaufen im Innern der zerstörten Synagoge; aber einen der beiden Kristallhelden hatte ich trotz seiner braunen Verkleidung wieder erkannt; ich habe ihn damals fast täglich gesehen. Wenn ich auf meinem Schulweg an seinem Haus vorbeiging und ihn dabei häufig im Garten sah und - wie jeden im Dorf - stets freundlich grüßte, dann grüßte er stets ebenso freundlich zurück. Doch von diesem Morgen an wich ich stets seinem Blick aus, wenn ich ihm begegnete; es gelang mir nie, seine pflegerische Gartenarbeit mit der zerstörerischen Tätigkeit in der Synagoge in Einklang  zu sehen.
Einige Jahre später: Das großdeutsche Reich, das in seiner Unmenschlichkeit, nicht nur auf dem Scherbenhaufen jener Nacht und jenes Morgens aufgebaut war, hat dann auch dieser SA-Mann ohne äußere Blessuren, aber wohl nicht ohne bleibende "innere Rückstände" überlebt; denn bei der ersten unpassenden Gelegenheit hatte jener die Stirn, sich in einem skurrilen Prozeß inszenierter Selbstentnazifizierung auf makabre Weise von seiner damaligen Schuld befreien zu wollen, in dem er sich ganz in der Art der Unverbesserlichen über seine eigenen Heldentaten von damals lustig machte:
Der schrecklichste aller Kriege war endlich vorbei. Mein Dorf hatte sich einigermaßen von der jüngsten Geschichte erholt. Es wurde fleißig gearbeitet, und es wurden wieder alle Feste des Jahres zünftig gefeiert, jetzt wieder mit dem selbstgekelterten Viez, dem selbstgebrannten Schnaps und vor allem mit dem französischen Rotwein, der durch den wirtschaftlichen Anschluß des Saarlandes an Frankreich nunmehr reichlich floß.
Und so kam es, dass sich auf der ersten karnevalistischen Kappensitzung nach dem Krieg etwas ereignete, was ich als Augenzeuge außergewöhnlich schockierend empfand: Da stand auf einmal ein Mann aus dem Publikum auf, trat in die Bütt, strich sich die dunkelbraunen Haare schräg in die Stirn, zog mit einem vorher angebrannten Korken einen breiten Rußstrich senkrecht unter die Nase und nahm gekonnt eine allen bekannte Pose ein. Die Rede, die dann in der Maske des Schnurrbärtigen von Braunau folgte, war von teuflicher Eingabe und bitter makabrer Realität: „Volksgenossen....,Soldaten...“
Und was als Parodie begann, steigerte sich dramatisch zur peinlichen Beschwörung des Ungeistes. Und als die Augen des Redners am Glanz der eigenen Worte zu glühen begannen, da stieg in meiner Erinnerung plötzlich wieder das Bild eines im Lichtschein des Feuers verzerrten Gesichtes auf: Es waren dieselben blitzenden Augen, in die ich damals geschaut hatte, als der Kronleuchter von der Decke der Synagoge herunterdonnerte, es war dasselbe Gesicht, das im Widerschein der Flammen grinsend aufleuchtete, als die alte Sarah in frostiger Nacht im bloßen Nachthemd aus ihrem Haus auf den Misthaufen gezerrt wurde.
 
 
Der gelungene Versuch einer aussöhnenden Begegnung
 
Nach der Schreckensherrschaft waren alle Spuren über die einstige Lebensgemeinschaft von Christen  und Juden in unserm Dorf wie ausgelöscht. Niemand der einstigen jüdischen Mitbürger ist je wieder nach Brotdorf zurückgekehrt, und auch die Synagoge gibt es längst nicht mehr.
Erst als ich das Manuskript zu meinen Erinnerungen einer guten Verwandten von mir zu lesen gab, da schickte sie mir ein ganzes Paket von Unterlagen, aus denen hervorgeht, wie sehr sie sich  in einer umfangreichen, geduldigen Recherche über eine lange Zeit hinweg bemüht hat, den Verbleib der Juden aus unserm Dorf aufzudecken, die den Holocaust überlebten und wie dann endlich eine Wiederbegegnung mit ihnen zustande kam.
Meine Kusine Herta erreichte schließlich in Zusammenarbeit mit der „Christlichen Erwachsenenbildung“ aus der Kreisstadt, dass eine Gruppe von 52 ehemaliger jüdischen Mitbürgern  aus aller Welt in unserm Dorf zusammenkam, um sich gemeinsam mit den anderen Brotdorfern zu erinnern und vielleicht sogar ein wenig auszusöhnen. Bei der damaligen Begegnung wurde dort, wo einst die Synagoge stand, von den christlichen und jüdischen  Brotdorfern gemeinsam ein Gedenkstein errichtet. Bürgermeister Walter Anton mahnte dabei aus der Vergangenheit in die Gegenwart weisend:
„Wir dürfen nicht darüber hinwegsehen, dass unsere Jugend auch heute noch an dem Verbrechen der Nationalsozialisten schuldig werden könnte, dann nämlich, wenn sie ihre aus dem damaligen Geschehen erwachsene Verantwortung nicht erkennen würde.“
 
Auszug aus Rudolf Engel: Dreimal „Heim ins Reich“ und zurück
Dramatische, bewegende und fesselnde Lektüre mit vielen Dokumenten, Fotos und Dialekt-Glossar. Verlag Dr. Kovač, 224 S., Broschur