Vom Unheil der Eindeutigkeit

David Olivants dämonologische Nachträume der Kunstgeschichte

von Andreas Steffens


David Olivant - Cadenza 2004

Vom Unheil der Eindeutigkeit

David Olivants dämonologische Nachträume der Kunstgeschichte

Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung: David Olivant Cadenza, Galerie Janzen, Wuppertal, 28.10.2007

In dieser Welt muß Gott dem Teufel dienen.

William Gaddis, >Die Fälschung der Welt<


Der Titel, den David Olivant dieser Ausstellung - seiner ersten Einzelausstellung in Europa - gegeben hat, ist eine musikalische Metapher. Sie kennzeichnet ein bildkünstlerisches Verfahren, in dem die literarische Technik sich mit der malerischen durchdringt: als auskomponiertes Solo am Ende des Hauptsatzes eines Konzertes für Orchester und Soloinstrument, in dem seine Hauptmotive in improvisationsähnlicher Manier umspielt werden, steigert die ‚Cadenza’ den Solopart zu einem glänzenden virtuosen Höhepunkt.
In Analogie dazu ist Olivants Malerei eine Kadenz im großinstrumentierten Konzert der europäischen apokalyptischen Malerei seit dem Spätmittelalter: das Solo einer zeitgenössischen Reprise und Anverwandlung ihrer Hauptmotive.
Seit das Monopol des abstrakten Expressionismus durch Pop- und Minimal-Art gebrochen war, öffnete sich eine neue Freiheit des Malens.  Olivant steht, bewusst und unübersehbar, in der Tradition einer neuen, literarisch inspirierten Figuration, für die vor allem das Werk Ronald Brooks Kitajs, des englischen Amerikaners, steht, dem Olivant, ein amerikanischer Engländer, mit manchem Zitat und mancher Anspielung Referenz erweist.

Die Allgegenwart der Geschichte ist denn auch der prägendste Zug seiner Malerei. Aus den kaum bewältigten und noch weniger begriffenen Schrecken der Geschichte stammend, wandte unsere Generation in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Ausbildung des Eigenen unaufschiebbar wurde, sich einer damals entstehenden ‚Transavantgarde’ zu. Deren Hauptmerkmal wurde die Lizenz zum Griff in die Arsenale der Geschichte, wann und wie immer er sich als erforderlich, hilfreich oder auch nur möglich erwies. Das vermeintliche ‚Ende der Geschichte’ machte ihren gesamten Kulturbestand zum ästhetischen Spielfeld der Imagination in den Bemühungen, den eigenen Lebenserfahrungen Gestalt zu geben.
Thematisch springen Olivants historische Bezüge ins Auge. Sie reichen von Mathias Grünewald, Hieronymos Bosch und Breughel über Goya, James Ensor und Odilon Redon bis zu Francis Bacon, Alfred Kubin, Hans Fronius und Richard Oelze; formal stellen Degas, Bacon und Kitaj die wichtigsten Bezüge.
Sein eigenes produktives Verfahren folgt einer individuellen Mischung aus abstrakt-tachistischer Zufallslenkung, in der eine Farbsetzung die nächste provoziert, und  surrealistischer Automatik des Unbewussten, die sich unter der Hand entfalten lässt, was sich aus dem Bewusstsein und seinen vielen Zuständen zum Gebildetwerden in sie drängt. So klar die Komposition, so stringent die Figuration des fertigen Bildes schließlich ist, so wenig sind sie die Folge einer vorherbestimmenden formalen Absicht. Es sind Bilder, die aus dem Vorgang des Bildens entstehen, indem der Künstler seinem Wissen, seiner inneren Verfassung und seinen Seeleneinlagerungen freies Spiel in der Führung seiner Hand gewährt.
So träumt Olivant im Prozeß seiner Arbeit die Kunstgeschichte gleichsam noch einmal aus sich heraus in seine Bilder hinein, auf der Spur jener allgegenwärtigen Verwandlungen und Metamorphosen, die sich in einer Welt der unbehebbaren Zweideutigkeiten in jedem Moment und Überall ereignen. Alles bleibt sich gleich, und wandelt sich doch ständig, um in frühere Zustände wieder zurückzukehren.

Vergleichbar in der jüngeren deutschen Kunstgeschichte sind wohl nur die >Paraphrasen< des späten Hans Fronius, Bilder über Bilder, in denen sich in überraschender Übereinstimmung gleiche Bezüge finden: seien es Piranesi, Goya oder Ensor.
Mit Kitaj verbindet Olivant besonders die Anerkennung des literarischen Charakters der Malerei. So finden sich in seinem eigenen Werk denn auch literarische Anspielungen die Fülle, von Rabelais, Cervantes und Grimmelshausen über Edgar Allan Poe, Oscar Wilde und die Schwarze Romantik bis hin zu Julien Green und Peter Weiss.
1907 erschien Alfred Kubins ‚phantastischer Roman’ >Die andere Seite<, eine düstere, doch nicht hoffnungslose Parabel über das ‚Traumreich’. Auch Olivant ist ein Künstler der ‚anderen Seite’. Auch seine Bilder sind ‚Traummalerei’, um Anna Klaphecks Kennzeichnung der die Bilder Richard Oelzes aufzugreifen (Klapheck, in: Oelze, 120).
Kubins Roman begründete einen deutschen Surrealismus aus dem Geist der schwarzen Romantik eines E.T.A. Hoffmann, eines Ludwig Tieck. Dessen >William Lovell< war der erste gnostische Roman der Moderne, in dem die Idee des Willens zum absolut Bösen als äußerste Probe auf die Erzwingbarkeit der Erlösung zum ersten Mal seit den gnostischen Urtexten der Spätantike gestaltet ist.

Und um nichts anderes geht es in der Tradition, in der David Olivants Kunst steht, als um den unbeendeten – weil unbeendbaren – Grundkonflikt in der europäischen Kultur um die Bestimmung der Natur des Bösen.
Sein form- und gestaltsprachlicher Rückgriff in die Geschichte der Altmeisterlichkeiten gilt keiner Nostalgie vergangener Schrecken, die sich noch heute wiederfinden lassen, sondern der Vergegenwärtigung der zeitlosesten aller Konstanten unserer Daseinsbedingungen: nämlich das Dasein nie in der Reinheit des einen oder des anderen besitzen zu können, des Glücks oder des Unglücks, des Schreckens oder der Seelenruhe.
Olivants Bilder sind Gesichte der Übergangsnatur eines Daseins, das sich selbst so fremd und unheimlich bleibt, wie seine zwischen Glück und Unglück, Erträglichkeit und Unerträglichkeit ausgespannte Welt es ihm auferlegt.
Diese Gesichte haben ihren genau datierbaren historischen Ort in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts, die eine Kunde von der Erfahrung des Negativen ist: dessen, wozu man sich nicht zustimmend verhalten kann, ohne sein eigenes Menschsein in Frage zu stellen. Als Möglichkeit zuerst wahrgenommen, wurde diese Anthropologie des Negativen in den Künsten der frühen Moderne, bei de Sade und Goya vor allen, bevor sie philosophisch formuliert wurde, nachdem sie sich vor nun zwei Generationen in historischen Ereignissen verwirklichte.

Es gibt nicht eine einzige Bejahung, nicht ein einziges Ja in den Mülltonnen unserer Kulturerbschaften. Kein einziges Ja zu ernten in den Rieselfeldern, für den Clochard in der Tonne, den im Faß des Ja schlafenden Zyniker. All diese Konstruktionen und all diese Monumente sind entstanden durch die Arbeit des Negativen gegen sich selbst. Durch den panzersprengenden Vektor der Negation und die Definition. Durch Umfassungen und Katastrophen, schreibt Michel Serres in seiner Studie über Carpaccio, einen der frühen Großmeister des Schreckens (Serres, 37).

Man ist, und weiß nicht, wie einem geschieht. Denn man ist entstanden und ins Leben gekommen ohne eigenes Zutun. Aus fremdem Willen geworden, müssen wir mit eigenem in der Welt bestehen, die nicht nach unseren, sondern nach ihren Regeln geordnet ist. Unergründlich jedem Einzelnen in der Bedürftigkeit seiner Singularität.
Dieser elementare Umstand schafft eine Existenzaura des Ungewissen, des Unsicheren, des Geheimnisvollen, des Fremden. Sie changiert zwischen Reiz und Drohung.
Aus ihr stammen die monotheistischen Religionen, die das Rätselhaft-Verwirrende jedes Existenzbeginns mit ihren Schöpfungserzählungen zu der Beinaheverständlichkeit neutralisieren, derer wir bedürfen, um unser Leben führen zu können.
Von dieser Erfahrung ergriffen, haben wir die Wahl: zwischen einem Leben als ‚Fabrikware der Natur’ (Schopenhauer), die von den Institutionen der Gesellschaft ‚konsumiert’ wird (Gehlen), der Krankheit und dem Wahnsinn, die es mit sich bringt, oder einem Leben aus der Kunst.
Die ahnungslose Unbedenklichkeit des Draufloslebens führt unweigerlich ins Verderben eines sinnlosen Todes. Denn schrecklich ist der Tod als Ende des Lebens nur, wenn es nicht gelang, aus dem Zufall des Gewordenseins eine Notwendigkeit des Gewesenseins gemacht zu haben: wenn einer seinem Leben nicht den Sinn hat erwerben können, sich verwandelt zu haben aus einer Beiläufigkeit der Welt zu ihrer Bereicherung.
Eines der größten Hindernisse auf diesem Weg, der von jeder neuen Existenz aufs neue beschritten werden muß, bildet jene Unterwelt des Diesseits, in der die Vereinigung der Dämonen mit unseren Seelen geschieht, die die unscheinbaren Ungeheuer unseres Allerweltsdaseins gebiert.

Diese Bilder sind der Erfahrung auf der Spur, die eine so alte Geschichte hat, dass ein jedes sich auf eine andere Figur der Geschichte beziehen kann, weil diese Erfahrung selbst unabhängig von jeder Geschichte ist. Die menschliche Geschichte scheint nichts anderes zu sein als eine Reihung von Varianten, dieselbe Grunderfahrung zu durchleben und zu gestalten: die Erfahrung nämlich der Kollision von Daseinserfahrung und Existenzansprüchen. Die Vernunft des denkenden Wesens Mensch kollidiert unablässig mit der Irrationalität des lebenden Wesens Mensch. Aus diesem Zwiespalt entsteht, was die Antike als ‚Dämonie’ bestimmte: die Verkehrung desselben in sein Gegenteil, die Einheit jedes Seins mit einem Anderssein, in dem es sich nicht wiederfindet, das aber doch untrennbar und unbeherrschbar zu ihm gehört – Mr. Jekyll und Doktor Hyde sind ein und dieselbe Person, und haben doch nichts miteinander zu tun.
Es ist eine protestantische Dämonologie, die in diesen Bildern noch einmal aufscheint. Sie findet die Versuchung des Menschen nicht in seiner Natur als Geschöpf begründet, sondern in seinem Hang zur Glaubensschwäche. Sie hält Europa seit der Reformation in Seelennot, die das Böse nicht dem Versucher, sondern der alleinigen Verantwortung des Versuchten aufgebürdet hat. Die Einsamkeit des Individuums vor seiner Heilsverantwortung stürzt es in eine Weltangst, die den Einbruch der Dämonie  als allgegenwärtige Möglichkeit heraufbeschwört.

Seitdem ist das Heil der Welt abhängig von der Glaubensfestigkeit jedes Einzelnen, und die Welt von Tag zu Tag bösartiger geworden, und stets aus den besten Motiven. Den Bösen kennt man nicht, aber die Bösen lassen sich ermitteln, kennt man erst einmal ihre Merkmale; was also läge näher, als das Böse dadurch loswerden zu wollen, dass man die Bösen beseitigt?
Die Folgen hat William Gaddis in seinem monumentalen, die amerikanische Nachkriegsliteratur begründenden Roman >The Recognitions< von 1952, der erst 1998 auf Deutsch unter dem Titel >Die Fälschung der Welt< erschien, in einem einzigen Satz zusammengefasst, ausgesprochen von einem protestantischen Geistlichen: In dieser Welt muß Gott dem Teufel dienen (Gaddis, Fälschung, 71). In diese Welt geben Olivants Bilder Einblicke.
Aber: Vielleicht ist alles Schreckliche im tiefsten Grunde das Hilflose, das von uns Hilfe will, zitiert Michel Serres in seiner Studie über Carpaccio aus Rilkes >Briefen an einen jungen Dichter< (Serres, 62).
Als eine Hilfe dazu, die die Kunst zu bieten hat, entdeckt das europäische 18. Jahrhundert die Schönheit. Die christliche Tradition verstand die Schönheit als Versprechen, als einen Vorschein der Erlösung. Je radikaler der Zweifel an deren Verheißung wird, desto näher rückt die Schönheit schließlich wieder dem Übel in der Welt, das sie transzendieren soll. So sehr, dass zuletzt die Schönheit des Übels entdeckt wird. Aller Schrecken Anfang sei sie, befand Rilke in seinen >Duineser Elegien<.
Die Schönheit noch im Übel zu sehen, ist die gnostische Wendung im Geist der Moderne, die nicht mehr an die Erlösung glaubt, sondern von der Tradition des Erlösungsglaubens erlöst werden will. Ein Mittel dazu ist ihr seit den >Gesängen des Maldoror< des Conte de Lautréamont, nicht gegen das Böse zur Erlösung zu finden, sondern durch das Böse hindurch noch über sie hinaus zu streben. Noch der Surrealismus wird von den Erfahrungen des Schreckens als Fundament für den Geist der Selbstbestimmung eines längst hinfälligen Subjekts zehren, wie die Meister der Renaissance und des Barock den Schrecken als diesseitiges Fegefeuer hin zum Erwerb der für die Selbstbehauptung in der Welt erforderlichen Stärke erlebten.

Das Unheimliche, das den Weltschrecken an der Wurzel unseres Daseins weckt, ist nicht die Begegnung mit Kräften, die von außen in unsere Welt, ihre Ordnung übergehend, einbrechen; es ist die Wirkung von Kräften, die zerstören, indem sie die Prinzipien dieser Welt auf eine Art nutzen, dass ihre Wirkung das Gegenteil dessen ist, was sie bewahren sollen: die aus guter Absicht böse Tat, aus Liebe Haß, aus Wohlwollen Feindschaft werden lassen, ohne dass es beabsichtigt wäre: es ist die Überwältigung unseres Bewusstseins und unseres Willens durch das Ereignis der Verkehrung.
Diese Verkehrung, diese Transfiguration, wie sie in Olivants Bildgesichten ständig vor sich geht, bringt aber nichts anderes hervor, sondern stets wieder die andere Seite desselben: die Fratzen zeigen unser eigenes Gesicht, in dem Zustand, in den wir jederzeit geraten können, weil nichts an unserem Dasein entschieden ist, noch sich entscheiden lässt.
Olivants Kunst der dämonologischen Transfigurationen ist eine bildnerische Absage an den Ungeist der Alternative und den Terror der Eindeutigkeit: das Eindeutige ein für alle Male herstellen zu wollen, wie es das Schreckensprogramm der Totalitarismen war, deren Verbrechen die zweitausendjährige Geschichte der europäischen Humanität zerstörten, bringt erst die Schrecken hervor, die sie bannen soll, so wie Goya im Schlaf der Vernunft die Ungeheuer entstehen sah.
Immer wieder daran zu erinnern, ist eine der Bedingungen dafür, dieses Unheil eines Tages hinter sich lassen zu können. Die Schönheit, mit der diese Erinnerung hier geschieht, ist ein kleiner Vorschein des Danach.

Literatur
Fronius, Hans, Paraphrasen, Stuttgart 1986
Gaddis, William, Die Fälschung der Welt (1952), Ffm 1998
Kubin, Alfred, Die anderen Seite. Ein phantastischer Roman (1907), München 1968
Maass, Max Peter, Das Apokalyptische in der modernen Kunst. Endzeit oder Neuzeit. Versuch einer Deutung, München 1965
Metzger, Arnold, Dämonie und Transzendenz, Pfullingen 1964
Oelze, Richard, 1900 – 1980. Gemälde und Zeichnungen, Akademie-Katalog Nr. 148, Akademie der Künste, Berlin 1987
Serres, Michel, Carpaccio. Ästhetische Zugänge (1975; NA 1992), Reinbek 1981

Steffens
, Andreas, Verschränkung der Traditionen im Virtuosenspiel. Zur Legitimität einer historisierenden Transavantgarde, in: zeitmitschrift. Journal für Ästhetik, Heft 2, Düsseldorf 1986, 191-197

David Olivant, 1958 in Watford/England geboren, studierte Malerei am  Royal College of Art in London. Nach längeren Aufenthalten im Ausland, u.a. in Indien, lebt er seit fast 25 Jahren in Kalifornien/USA. Seit 1995 ist David Olivant Professor für Kunst an der California State University Stanislaus/USA. 

In der Galerie Janzen werden die Arbeiten des Künstlers erstmals in Deutschland präsentiert. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog.

Ausstellungsdauer: bis 25. November 2007

Zum Ausstellungsende am Sonntag, 25. November 2007, 16 – 18 Uhr,
laden wir ein zu einem Gedankenaustausch zum Thema „Zwischenbewusstes“.

Moderation:  Dr. Urs Diederichs

Öffnungszeiten der Galerie:
Mi – Fr 16 – 19 Uhr
Sa      
11 – 15 Uhr und gerne nach Vereinbarung.


Redaktion: Frank Becker