Mr. Winterbottoms Hund

Eine Grenzerfahrung

von Dietrich Rauschtenberger

Dietrich Rauschtenberger
Foto © Frank Becker

Mr. Winterbottoms Hund

Wie schnell er doch vorbei war, der Urlaub in Cornwall. Ich verbrachte ihn in einem Ort namens Wizard’s End, bei dem es ein paar Steinkreise aus vorgeschichtlicher Zeit gab, die für meine Experimente geradezu ideal waren. Es waren Kultstätten aus Steinsäulen, ähnlich der berühmten von Stonehenge, nur viel kleiner. Zu der Zeit war ich von der Idee durchdrungen, es müßte doch möglich sein, in zwei Epochen gleichzeitig zu leben. Meine Methode, diese Idee zu verwirklichen, bestand darin, im Bannkreis der Menhire magische Figuren abzuschreiten, die ich aus einem uralten, ledernen Folianten kopiert hatte. Es waren verwickelte Chiffren, nicht unähnlich den Tänzen der Bienen, bei denen es auf die Winkel ankam, die bestimmte Menhire zur Sonne hatten. Leider hatten meine Experimente keinen Erfolg gehabt, der Übergang in eine andere Zeit war mir bis dahin nicht gelungen. Der Umgang mit dem magischen Element des Lebens gehörte also zu meiner Urlaubsroutine, warum hätte ich am Tag meiner Abreise darauf verzichten sollen, ein letztes Experiment zu unternehmen? Die schwüle, fast schon tropische Luft konnte mich nicht abhalten, auch nicht der Wetterbericht, der ein Unwetter voraussagte. Hier am westlichen Ende Europas waren örtlich begrenzte Wetterphänomene nichts Ungewöhnliches, Mr. Winterbottom, der Wirt des „Dog’s Head“, bei dem ich abends mein Pint of Bitter zu trinken pflegte, sprach vom „local weather“.

Beim Bowling Green am Ortsausgang verweilte ich ein paar Minuten, vielleicht in unbewußter Erwartung eines Zeichens, das mich am letzten Tag meines Urlaubs von meinem Vorhaben abhalten würde. Ich blieb stehen und beobachtete hinter dem Rhododendron verborgen, wie die Spieler in ihren weißen Blazern die exzentrisch gewichteten Bowls-Kugeln auf ihre bogenförmige Bahn schickten. Von all den grauhaarigen Gentlemen, die dort mit ihren Ladies ein Spielchen machten, war Mr. Winterbottom der einzige, den ich kannte. Anscheinend war er unverheiratet, denn ich hatte noch nie eine Frau bei ihm gesehen, auch in seinem Pub nicht. Eine Weile bemühte ich mich zu verstehen, wie sie die Punkte bei diesem Spiel zählten, leider vergeblich.

Ich setzte ich meinen Weg fort. Mein Ziel war der große Steinkreis bei Wizard’s Tomb, an dem ich schon zweimal experimentiert hatte. Aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Zu beiden Seiten der Straße, die dorthin führte, wölbten sich dicht mit Brombeerhecken bewachsene Feldsteinmauern. Die drückende Hitze nahm zu, und ein Gewitter kündigte sich an, unterm Horizont grummelte es beklemmend. Mit einem Mal war mir, als hätte Mr. Winterbottom eine seiner Bowls-Kugeln hinter mir hergeschickt, die nun mit wachsender Größe und Geschwindigkeit denselben Weg nahm wie ich. Voller Zweifel über den Ausgang meiner Reise ging ich weiter. Die Mauern zu beiden Seiten der Straße türmten sich immer höher auf, je weiter ich ging, bis die Landschaft völlig hinter ihnen verschwand. Ob die Mauern bis in den schwarzen Himmel gewachsen waren oder ob ich auf die Größe einer Feldmaus geschrumpft war, bald konnte ich es nicht mehr entscheiden, jedenfalls hatte ich den  Eindruck, als wanderte ich auf dem Grund einer engen Schlucht. Das ungeheure Poltern der Kugel dröhnte bedrohlich in meinen Ohren, anscheinend war sie dicht hinter mir, überdies hatte sie wohl gewaltig an Umfang und Gewicht zugenommen. Mich packte die Furcht, von ihr eingeholt und zermalmt zu werden. Wer weiß, ob es mir noch gelungen wäre, diesem Schicksal zu entkommen, wenn sich nicht in allerletzter Sekunde eine Bresche in der Mauer aufgetan hätte, in die ich mich keuchend warf. Ich preßte mein Gesicht auf die Erde, bis das Donnern des monströsen Geschosses jenseits der Menhire verhallt war.

Ich fand mich auf einer Wiese mit mannshohen Gräsern wieder, die ich wieder bei leidlich guter Laune durchquerte. Ich kam nicht weit, eine Dornenhecke versperrte mir den Weg. Sie war nicht zimperlich, diese Hecke. Die Wiese hatte mich lediglich mit ihren harten Gräsern gepeitscht und mit ihren Disteln gepiekt, die Hecke aber krallte sich fest und brachte mir mit ihren Dornen tiefe Kratzwunden bei. So sehr ich mich auch abplagte, ich fand keinen Durchschlupf. Dennoch kroch ich weiter, bis ich erschöpft an ein Tor stieß. Seine Gitterstäbe bogen sich über mir zu Widerhaken, die scharf waren wie Fleischermesser. Wahrscheinlich nahm der Besitzer, wenn ihn Depressionen quälten, einen Wetzstein und schärfte die Spitzen liebevoll, wobei er die grausamen Lieder sang, die ich im Stahl der Gitterstäbe widerhallen hörte.

Erst jetzt sah ich die schreckliche Gestalt, die an dem Tor Wache hielt. Es war die Panik. Es hat wenig Sinn, die Panik zu beschreiben. Wer sie kennt, weiß, wie sie aussieht. Wie immer kam sie unangemeldet, aber nicht unerwartet. Sie fuhr ihre Scheren aus und begann mich zu zwicken und zu zwacken. Was sollte ich machen? Ich kniff den Schwanz ein und schnüffelte zur Seite ab, aber die Panik ließ sich nicht abschütteln, sie folgte mir und rasselte mit ihrem Schuppenpanzer. In meiner Verzweiflung stürzte ich mich kopfüber in die Hecke und grub mich mit den bloßen Händen und krachenden Nähten durch das Dornengestrüpp. An der Stelle muß es gewesen sein, wo ich meinen rechten Schuh verloren habe. Ich kann nicht sagen, wie lange der Kampf gedauert hat, bis ich endlich meinen Kopf wieder ins Freie strecken konnte. Ich wischte mir das Blut aus den Augen und sah, daß ich in einem Irrgarten aus Hecken und Blumenbeeten stand. Weiter hinten nahm ich ein grün überwuchertes Landhaus und eine Mauer wahr, hinter der ich die ersehnte Straße vermutete. Ich blutete an Gesicht und Händen, meine Kleidung hing in Fetzen und ich war über und über mit Dreck beschmiert. Trotz meines miserablen Zustands regte sich in mir die Hoffnung auf einen glimpflichen Ausgang dieses Abenteuers, glaubte ich doch, die Panik abgeschüttelt zu haben.

Meine Zuversicht währte nur kurz. Ein Ungeheuer von einem Hund stand mir so plötzlich gegenüber, als habe sich der Rasen aufgetan und ihn ausgespien. Es war ein Dobermann, seine Lefzen zuckten über den Reißzähnen, in seiner Brust brodelte es. Man hatte der Bestie die Ohren angespitzt wie einem Höllenhund. Ein vollkommen absurder Gedanke schoß mir durch den Kopf: hätte ich die Fernbedienung meines Fernsehgeräts, könnte ich diesen grauenhaft realistischen Zerberus einfach wegdrücken und ein anderes Programm wählen. Aber sogar wenn mir ein hilfreicher Geist die magische Fernbedienung in die Hand gegeben hätte, wer weiß, ob ich gewagt hätte, sie zu benutzen, denn bei der Handbewegung, die meinen Gedanken begleitete, grollte die Bestie noch grimmiger und zwang mich, bewegungslos dazustehen und geradeaus zu starren.

Was ich sah, hätte mein Herz unter anderen Umständen gewiß erfreut, denn von der Grenzmauer herab ergoß sich eine Fülle von Kletter- und Schlingpflanzen, Beerenhecken und Mauerblumen, es übertraf an wilder Schönheit alles, was ich bisher gesehen hatte. Das Grün wucherte an das Haus heran, kletterte daran empor und bedeckte es mit einem dichten Gestrüpp von Blättern und Ästen, nur die Fenster und Türen waren frei. Sturzbäche von Blüten in allen Farben und Formen strömten zu beiden Seiten des Kiesweges vom Haus herüber und sammelten sich in einem Blumengarten, der ein paar Meter weiter von dem Stück Rasen endete, wo mich der Bluthund festgenagelt hatte. Hinter mir erhob sich wie eine dunkelgrüne Mauer die Dornenhecke, auf deren Krone die Panik hockte. Sie hatte mich wieder eingeholt und kreischte vor Lachen. Die Luft lag feucht und heiß auf meiner Haut, Schweiß tropfte in meine Augen, aber angesichts des Hundes wagte ich nicht, ihn abzuwischen.

In diesem Augenblick erschien auf der hölzernen Veranda des Hauses eine Frau. Sie war mit nichts als einem blauen Bikini bekleidet und trug dazu einen breitkrempigen Strohhut mit einem rosa Band. Ich kann nicht sagen, wie erleichtert ich war, ein menschliches Wesen zu sehen.
“I lost my way. May I pass the garden to find the street?“
“Oh, yes, of course ... but the dog ... sorry, but the dog is ...”
Beim Klang ihrer Stimme klappte das Ungeheuer sein Maul mit einem scharfen Laut zu, in seiner Brust kochte jedoch weiterhin diese grobe Suppe. Was ist los mit ihr? dachte ich. Ist sie besoffen oder irre? Oder hat sie mich nicht verstanden? Mein Englisch ist nicht das beste und wegen des grauenhaften Hundes wagte ich kaum, die Lippen zu bewegen.
“You mean, he could ...?”, quetschte ich hervor.
“Yes, I’m sorry, but he may perhaps bite you and tear you into pieces.”
“My god! Couldn’t you call him?”
“Oh, I’m so sorry, but unfortunately it is not my dog.”
Mir wurde schwindelig bei dieser Mitteilung und für einen Moment befürchtete ich, ohnmächtig zu werden. Nicht ihr Hund? Nur nicht die Kontrolle verlieren und umstürzen, dachte ich. Der Dobermann würde mich zerfleischen. Die Frau setzte sich ruckartig in Bewegung und kam die Treppe herab. Anscheinend hatte sie einen Entschluß gefaßt. Sie würde mich aus meiner Lage befreien. Irgendwie. Es konnte doch nicht sein, daß sie keine Macht über das ekelhafte Vieh hatte, das nun seine Fledermausohren nach hinten spitzte. Äußerst langsam bewegte ich die Augäpfel nach rechts. Ganz am Rande meines Blickfeldes sah ich den blauen Bikini in einem kleinen Schuppen verschwinden.

Es ist schwierig zu sagen, was ich empfand, als sie wieder zum Vorschein kam. Das einzige, was sie jetzt noch trug, war eine grüne Gießkanne. Sie war eine reife Frau, mit breiten Hüften, Brüsten wie Brotlaibe, einem feisten, runden Bauch und stämmigen Schenkeln. Das Gehirn sucht in solchen Fällen nach Erklärungen. Es muß doch einen verdammten Grund geben, denkt es, warum eine brave Hausfrau sich nackt auszieht, wenn ein harmloser Fremder in ihrem Garten von einem bissigen Wachhund bedroht wird. Unwillkürlich machte ich eine Bewegung, der Dobermann erhöhte sein Knurren um einen halben Ton und legte seine Reißzähne frei. Ich hoffte immer noch, sie würde etwas tun, um mir zu helfen, wenn ich auch nicht verstand, warum sie sich zu diesem Zweck ausgezogen hatte. Als sie näher kam, streifte mich ihr Blick und ich begriff, daß sie wahnsinnig war. Sie tat, als seien wir Gartenfiguren aus Gips, die Bestie und ich. Ich wagte keinen Ton. Auch nicht, als sie an mir vorbeischritt und zum Greifen nahe an einem verborgenen Wasserhahn die Kanne mit Wasser füllte. Der Duft von ihrem schwerem Parfüm stieg mir in die Nase. Hier war ein Mensch nahe daran, zerfleischt zu werden, und ihr fiel nichts anderes ein, als Blumen zu gießen. Nackt. Während der Wasserstrahl in das Gefäß prasselte, mußte ich ihren Hintern anstarren, obwohl mir nun wirklich nicht der Sinn danach stand, und weil sie sich breitbeinig nach vorne beugte, um auch die entfernten Blumen zu erreichen, erkannte ich auf der linken Backe ein großes W. Ich hätte schwören können, daß es ein Brandzeichen war. Die Blüten streichelten ihren Leib. Offenbar genoß sie das Bad in den Blumen sehr, denn sie seufzte und stöhnte, als ob sie in Hitze geraten wäre. Bei diesen Geräuschen bleckte der Hund die Zähne und winselte, als witterte er den Duft von tausend läufigen Hündinnen.

Einmal ist jede Kanne leer. Die nackte Gärtnerin wendete sich mir zu, der Dobermann zwischen uns. An ihrem Schamhaar haftete Blütenstaub. Unter anderen Umständen hätte ich den Anblick gewiss reizvoll gefunden. Ihr Blick ging durch mich durch, vielleicht hielt sie mit der Panik Zwiesprache, die immer noch an meinen Halswirbeln feilte. Nun schob sie das Gießrohr der Kanne von hinten zwischen ihren Schenkeln durch und führte eine obszöne Posse auf, bei der sie so heftig in Wallung kam, daß das restliche Wasser aus dem Rohr spritzte. Ihr Gesicht blieb dabei jedoch starr, von Erregung war darin nichts zu erkennen. Ich ließ jede Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang dieses Abenteuers fahren, mein Mut konnte tiefer nicht sinken. Erst hatte mich die Kugel beinah zu Mus zerquetscht und vom Weg abgebracht, als nächstes war die Panik gekommen, um mich zu piesacken, dann hatte die Hecke mich geschunden, jetzt stand dieser Höllenhund vor mir und ich befand mich in der Gewalt einer wahnsinnigen Sadistin.

Die Hecke rieb klirrend ihre Dornen aneinander, aus der Welt jenseits des Gartens drang kein Laut herüber, nur hin und wieder war ein irres Keckern zu hören, das ich der Panik zuschrieb. Es war jedoch eine Elster, die von irgendwo herbeiflog, auf dem Rasen landete und umherstelzte wie ein Soldat auf Krücken. Sie legte ihren Kopf mit dem stahlblauen Helm schief und beäugte den Rasen, mal mit dem einen, dann mit dem anderen Auge. Plötzlich stieß sie ihren Schnabel in den Boden und zog einen elastischen, roten Wurm heraus, der sich noch aus ihrem Schlund winden wollte, als sie ihn schon halb hinuntergeschlungen hatte. Der Hundes ließ seine Zunge aus dem Maul hängen und hechelte, sein Geifer zog lange Fäden, langsam schob sich die rote Spitze seines Penis heraus. Die Nackte warf den Kopf in den Nacken und ließ das Gießrohr zwischen ihren Schenkeln flutschen. In meinem Mund sammelte sich der Speichel, ein Schwindel erfaßte mich. Ein Schrei, Wasser spritzte aus dem Rohr. Meine Knie schlotterten, die Spannung löste sich in befreienden Zuckungen.

Der Dobermann spitzte die Fledermausohren. Auf der Straße schlug eine Autotür. Die Scharniere eines Tores quietschten. Wie ein schwarzweißer Zacken schoss die Elster herüber und verschlang den Penis des Hundes, der sich in einen stinkenden, züngelnden Bastard aus Ratte, Chamäleon und noch etwas Unbeschreiblichem verwandelte. Die Frau war beim ersten Geräusch ins Haus gelaufen, nur die Gießkanne lag noch auf dem Rasen. Ein Mann erschien auf der Veranda. Es war Mr. Winterbottom in seinem weißen Blazer. Jetzt wurde mir klar, warum mir das W auf dem Hintern der Frau so bekannt vorgekommen war, es war dasselbe, das Mr. Winterbottom auf seinem Blazer trug. Ein scharfer Ruf, ein Pfiff! Der ekelhafte Hund trippelte zu seinem Herrn hinüber und schwänzelte tollpatschig um seine Beine.

Das Gewitter hatte sich verzogen und das Haus lag im Sonnenschein. Auf der Veranda erschien Mrs. Winterbottom. Sie trug jetzt ein blauweiß gestreiftes Sommerkleid und begrüßte ihren Mann mit einem Kuß. Sie lächelte freundlich herüber, zeigte auf die Kanne, der man nichts ansah, wies auf die Blumen, neckte den Hund, der an ihr hochsprang, verwirrt sah ich, daß es ein harmloser, kleiner Kläffer war. Mr. Winterbottom lachte. Meine Erstarrung löste sich, und ich ging zur Veranda, hinkend, wegen des verlorenen Schuhs. Der Hund beschnüffelte ausgiebig meinen Schritt, wozu er sich an meinem Bein aufbäumte und ehe ich mich versah, seine Vorderpfoten um meine Knie schlang und die bekannten Bewegungen machte. Mr. Winterbottom erkannte rechtzeitig, daß ich kurz davor war, mich zu übergeben, und entfernte den Hund mit einem trockenen Fußtritt, den er ohne Veränderung seines gelblichen Lächelns plazierte. Er führte mich am Arm zur Straße, dort drehte er mich in die richtige Richtung. Ich erwartete einen Fußtritt, aber er sagte: „Good luck. And sorry for the dog.”

Ich zog den linken Schuh auch noch aus, warf ihn in hohem Bogen über die Hecke und machte mich auf die Socken.


© Dietrich Rauschtenberger - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007