Die Verabschiedung
Herr Wilsrode wollte sich verabschieden. Ein Jahr hatte er in dem kleinen Ort gewohnt. Nun war es Zeit zu gehn. Es war November und für die Jahreszeit unnatürlich warm. Wurde Zeit, daß man wieder wußte, wo man war. Herr Wilsrode zog die Schlüssel von seinem Schlüsselbund und ließ sie auf die Fensterbank fallen. Wie hatte er es nur so lange in dem Ort ausgehalten? Er fühlte sich dort allein und hatte oft Blähungen. Ihm war, als würde er immer mehr verschwinden und plötzlich aufhören zu „sein“. Zum Glück konnte er heute einen Schlußstrich unter diese Phase ziehen. Er zog zurück ins Paradies und staunte noch immer über seine Abenteuerlust. Nun wollte er sich verabschieden. Zuerst ging er zu seinem Nachbarn Herrn Bumans, aber obwohl er zweimal klingelte und durch das Fenster Licht im Wohnzimmer zu sehen war, öffnete niemand die Tür. Das mußte nichts heißen. Herr Bumans saß oft bis in die Nacht an seinem Schlagzeug und hörte nichts um sich herum. Herr Wilsrode klingelte nochmal, aber niemand kam an die Tür und drückte seine Hand. Herr Wilsrode ließ sich nicht entmutigen. Er ging weiter zur Familie Klinko, die am Ende der Straße wohnte und deren Sohn Uwe ihn immer mit Steinen bewarf. Herr Wilsrode klingelte und trat von der Tür zurück, um seine Verabschiedung salopp halten zu können. Er war mit niemandem in der Straße befreundet gewesen, aber wer kommt, der sagt „Hallo“ und wer geht, der sagt „Auf Wiedersehn“. Das unterscheidet den Ehrenmann vom Lump. Herr Wilsrode klingelte noch mal. Leider kam auch bei Familie Klinko niemand an die Tür oder öffnete ein Fenster. Niemand warf einen Stein nach ihm oder streckte ihm die Zunge raus. Wollte sich niemand von ihm verabschieden? Konnte es sein, daß keiner bemerkt hatte, daß er hier wohnhaft war? Herr Wilsrode ging weiter zu Herrn Raupe, seinem Nachbarn gegenüber, der jeden Tag am Rasenmähen war, klingelte und zog unverrichteter Dinge weiter. Bei Familie Beringers heulten nur die Wölfe, aber sonst schien niemand zu Hause zu sein. Plötzlich schüttelte Herr Wilsrode seinen Kopf. Es hatte zu regnen begonnen. Ein leichter Wind strich über die Wiesen. Welch eine gelungene Verabschiedung, dachte er. Eines war sicher. Hier würde ihn niemand vermissen. Das ist doch auch ein Trost.
© 2013 Erwin Grosche für die Musenblätter
Redaktion: Frank Becker |