Der gefundene Ort

von Martin Hagemeyer

Der gefundene Ort
 
R. blieb am Rand stehen. Seine große Ledertasche, beladen mit mehreren heute im Büro benötigten Aktenordnern, ließ er erleichtert auf den Bordstein sinken und gestattete sich, etwas durchzuatmen. Er stellte fest, daß der Ort ihm zusagte.
Jenseits der mäßig befahrenen Landstraße erhoben sich einige kleinere Geschäftsgebäude, darunter ein Notariat und ein Handel für Kleintierbedarf, der, zu urteilen nach den verschlossenen Läden, heute Ruhetag hatte, aber in hellem Grasgrün gestrichen war. R. schätzte diese Farbe.
Um die Herren im Büro nicht warten zu lassen, machte er sich kaum fünf Minuten nach Beginn der Rast auf zur bevorstehenden Dienstbesprechung, derentwegen er besagte Aktenlast mit sich trug.
 
Am nächsten Tag brauchte er keine Tasche. Sämtliche Arbeitsunterlagen hatte er am Vorabend am Arbeitsplatz zurücklassen können. Als er jedoch am gestern gefundenen Ort vorbeikam, schien der Tierhandel geöffnet zu haben, denn eine Dame mit einem Papagei im Käfig trat soeben auf die Straße – der farbige Vogel war von R.s Straßenseite gut zu sehen und gab sogar ein Krächzen von sich. Als indes die Dame ihn bemerkte, wie er so bloß dastand und herüberschaute, meinte R. einen zweifelnden Blick in ihrer Miene auszumachen, wohl gar eine ruckartige Bewegung ihrer Hand beim Abgang, die auch der Vogel übel vermerkte. Keine zwei Minuten mochte diesmal der Aufenthalt gedauert haben; aber sich einen längeren zu erlauben, sah sich R., der doch gänzlich freihändig war, heute auch nicht in der Lage.
 
Am folgenden Morgen ersuchte R. seinen Vorgesetzten, die zuletzt in Rede gestandenen Aktenordner nach Dienstschluß mit nach Hause nehmen zu dürfen, wovon er sich einige Entspannung verspreche. Dem Vorgesetzten wäre es ein leichtes gewesen, dieser Bitte nachzukommen, doch zu R.s heimlichem Grimm schlug er sie aus, wobei er nachrangige und sonst nie interessierende dienstliche Bedenken ins Feld führte.
R., der mit diesem Fortgang der Ereignisse nicht gerechnet und auch die Ledertasche zwecks Befüllung bereits mit ins Büro gebracht hatte, brach am Nachmittag in gerechter Mißstimmung zum Rückweg auf. Aus reinem Trotz machte er auf Höhe der Tierhandlung halt, obwohl man ihm doch keinerlei Anlaß dazu gegeben hatte. Doch dann wieder war's ihm wohl – gegen alle Berechtigung – die Hauswand in der Sonne glänzte frisch gestrichen, dunkel gekleidete Menschen schritten würdig zum Notargeschäft und nickten anerkennend.

R.s Tasche am Boden war leer, aber schwarz; er wußte sich am rechten Ort.
 
 
© 2013 Martin Hagemeyer