Der alte Mann 1

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Der alte Mann 1
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Es war kalt geworden, und weder er noch sein Hund hatten Lust sich zu bewegen. Sie schlunzten am Ärztezentrum vorbei und wunderten sich, daß dort nie ein kranker Mensch zu sehen war. Gab es einen Hintereingang für kranke Menschen? Er blickte auf die Bushaltestelle „Im Spiringsfeld“ und wie immer ärgerte er sich, daß beim Straßennamen der Buchstabe „e“ fehlte. Wie soll man hoffen, daß der Bus pünktlich kommt, wenn das Busunternehmen aus „Im Spriringsfelde“ das „Im Spiringsfeld“ macht? Was wäre die Welt ohne ein „e“? Eine Wlt. Eine sinnlose Anhäufung von Buchstaben, die uns alle verzweifeln lassen würden. „Reg dich nicht so auf“, hatte seine Frau immer zu ihm gesagt. Aber er regte sich auf, ob er nun wollte oder nicht. Zum Glück kam die Sonne hervor und besänftigte seine Gedanken. Wie einfach es manchmal war, Trost zu finden. Auf dem Rückweg kamen sie wieder an dem Wartehäuschen vorbei, von dem aus der Bus in die Innenstadt fuhr. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war auch eine Haltestelle, an der konnte man mit dem Bus stadtauswärts fahren.  Dort war kein Wartehäuschen, in dem man sich aufhalten konnte. „Das ist nicht gerecht“, murmelte der Mann seinem Hund zu. Wie erniedrigend mußte es sein, wenn man im Regen an der Bushaltestelle ohne Wartehäuschen stand und auf die Busfahrgäste blickte, die gegenüber im Wartehäuschen saßen und geschützt vor Wind und Regen ein Lied pfiffen. So entsteht Wut, dachte der alte Mann. Im Grunde müßte die Fahrt stadtauswärts billiger sein. Es reicht nicht, an das Halteschild einen Mülleimer zu hängen, um Kundenservice vorzutäuschen. Der alte Mann zerrte seinen Hund über die Straße. Er blickte noch einmal zurück. Im Wartehäuschen standen Menschen, die den Busfahrplan studierten. Sie sangen. An der Bushaltestelle ohne Wartehäuschen standen ein Mann und eine Frau, die sich küßten. Okay, dachte der alte Mann. Wenn man verliebt ist, erträgt man Ungerechtigkeiten eher, als wenn man allein ist.  
 
 
© 2014 Erwin Grosche





Foto © Frank Becker