Kabarett! Was sonst?

Eine Inventur (Teil 1)

Von Jürgen Kessler

Jürgen Kessler
Kabarett! Was sonst?
Eine Inventur aus Anlaß 100 Jahre Kabarett (18.1.2001).
2007 fortgeschrieben für ZDF Online.


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Von Jürgen Kessler.



"Wir werden diese alberne Welt umschmeißen
"

verkündete der Kabarettpropagandist Otto Julius Bierbaum einst zur Jahrhundertwende. Na, ja: Nach vergeblichem Bemühen mit der neuen künstlerischen Form zur Jugendstil-Ausstellung 1900 in der Künstler Kolonie Mathildenhöhe in Darmstadt herauszukommen, war es kurze Zeit später für den konservativen Schriftsteller Baron Ernst von Wolzogen in Berlin endlich soweit: Am 18. Januar 1901 konnte er mit dem Programm Buntes Theater des in Anlehnung an Nietzsches Über-Mensch Über-Brettl genannten Ensembles, zumindest formal, das erste Kabarett in Deutschland aus der Taufe heben.


Ernst von Wolzogen

Weltumwerfend war dieser wenig politische, eher operettenhafte Start nicht: Ein Vergnügungskabarett mit 650 Plätzen. Allerdings folgten schon fünf Tage später mit Max Reinhardts Schall und Rauch und im April 1901 mit den Münchener Elf Scharfrichtern die kritisch-frechen Varianten. Frank Wedekind, herausragender Satiriker der Kaiserzeit, singt hier wie im von Kathi Kobus geleiteten Münchner Simpl, dem langlebigsten Kabarett der Gründerjahre, seine gegen Prüderie und Spießertum gerichteten Lautenlieder. Fast aus dem Stand eroberte sich die neue Kunstform ihr Publikum im großstädtischen Kulturbetrieb, um dennoch bereits nach drei Jahren totgesagt zu werden.

Über hundert Jahre später straft die Sammlung des Deutschen Kabarettarchivs den Skeptizismus der Medien von gestern und heute Lügen: Mehr als achtzigtausend Namen sind dort erfasst, unter denen Spuren kabarettistischen Wirkens nach den Regeln der Kunst archiviert sind, Vorläufer und ideelle Leitfiguren inklusive, wie etwa der fiktive Till Eulenspiegel, dessen aufmüpfig-kreativer Geist in den Köpfen vieler Nachgeborenen nistete und so bis heute als Spötter auf Erden überlebt hat.

Abgeguckt hatte man die große Kunst der kleinen Bühnenform in Paris, wo zwanzig Jahre zuvor das erste Cabaret in der Künstlerkaschemme Le Chat Noir am Montmartre das Licht der Welt erblickt


Le Chat Noir
hatte. Bohemiens prägten das Erscheinungsbild der ersten Stunde, literarisches Cabaret war "en vogue", war intellektuelles Spiel gegen gesellschaftliche Konventionen. Mit satirischer Spottlust oder einfach nur unterhaltsam blödelnd, zuweilen aber auch mit bitterem Ernst, in Kneipen-Brettln und auf Theaterbühnen, präsentierten Dichter und Maler, Schauspieler und Musiker ihrem meist gutbetuchten Publikum die Welt des Kaiserreichs als Tingeltangel. Bald eingedeutscht, mit hartem K und zwei T, geriet es zunächst zum Experimentierfeld von Lyrikern und Kaffeehaus-Literaten, Dadaisten und Expressionisten.

Was darf die Satire? Alles.
(Kurt Tucholsky)

Aber nicht alles ist Satire, was sich später dafür ausgeben wird. Kurt Tucholsky und Walter Mehring sind die herausragenden Kabarettautoren der aufregenden zwanziger Jahre: Chronisten einer allein gelassenen Republik, Wortführer kämpferischer Satire, die daneben aber auch Poetisches oder hinreißend Komisches zur Unterhaltung ihres Publikums schrieben. Die Mischung machte es. Nicht umsonst bezeichnet der Begriff Cabaret auch die in Fächer eingeteilte Hors d' Oeuvre-Platte: Immer bereit zum bissig-bunten Nebeneinander verschiedener Formen und Inhalte. In der Plattenmitte befand sich das Fach für die alles verbindende Soße. Diese Rolle kam dem Présentateur oder Conférencier zu. Rodolphe Salis, Gründer des Le Chat Noir, war der erste seiner Zunft.

Für Bert Brecht diente Kabarett als Anregung für seine Theorie vom epischen Theater. Mit den Couplets eines Otto Reutter, den Chansons der Friedrich Hollaender und Rudolf Nelson, gesungen


Werner Finck
von Stars wie Claire Waldoff und Marlene Dietrich, trieb Kabarett sich vor allem in Berlin in großen Revuen und auf Varietébühnen herum, bis in die Nischen des Amourösen. In München verkörpert es mit Karl Valentin volkstümlich-absurd den entwurzelten Komiker von der traurigen Gestalt. Für Werner Finck indes und viele andere, wurde es in den dreißiger Jahren, als doppelbödiger politischer Witz, zum permanenten Überlebensrisiko; Finck, dessen künstlerisch-dokumentarischer Nachlass sich beim Deutschen Kabarettarchiv befindet, "wagte es in seiner Berliner Katakombe über die Wirklichkeit der Nationalsozialisten zu sprechen" (Sebastian Haffner).

Druckwerke vieler Satiriker gingen am 10. Mai 1933 in Nazi-Flammen auf. Viele Kabarettisten und Satiriker verbrachten das so genannte tausendjährige Reich zum Teil im Exil, zum Teil im KZ, Erich Mühsam, Fritz Grünbaum und Kurt Gerron etwa, die in Oranienburg, Dachau und Auschwitz ermordet wurden.

Sich fügen heißt lügen.
(Erich Mühsam)

Nach dem zweiten verlorenen Weltkrieg, das ganze moralische Desaster noch nicht überblickend, beginnt eine wahre Renaissance des Kabaretts. In "Trizonesien" singt Ursula Herking im "Marschlied 45" trotzig-melancholisch: "Wir haben ja den Kopf noch fest auf dem Hals" (Edmund Nick / Erich


Münchner Lach- und Schißgesellschaft
Kästner). Im Düsseldorfer Kom(m)ödchen setzt es neue Maßstäbe im politisch-literarischen Anspruch und mit Günter Neumanns Insulanern swingt es berlinisch in den Kalten Krieg. Es trommelt mit Wolfgang Neuss die Folgen der Verdrängung und der Wirtschaftswunderjahre ins bundesdeutsche Bewusstsein und feiert (Hintermännern wie Sammy Drechsel, Klaus Peter Schreiner oder Rolf Ulrich sei dank), mit der Münchner Lach- und Schießgesellschaft und den Berliner Stachelschweinen bald telegen Silvester. So wird es einem breiten bürgerlichen Publikum zum Begriff. Damals hat Fernsehen politisches Kabarett groß gemacht.

In der DDR richtete es sich über die vier Jahrzehnte mehr oder weniger mühelos in den Grenzen der real existierenden Zensur ein, im Zweifel von der besseren Sache des Sozialismus überzeugt. Allen voran Wolf Biermann, betreten gesellschaftskritische Liedermacher in Ost und West die Szene. Mit ihrer Emotionalität ergänzen und befruchten sie das zu Zeiten der Studentenbewegung eher rational argumentierende Kabarett. Mit Franz-Josef Degenhardt singt es im Westen in den Sechzigern gegen den Vormarsch der Neonazis an, agitiert mit der APO (außerparlamentarische Opposition) in die aufgewühlten siebziger Jahre hinein, von Schobert & Black bis zu den "Scherben", von Dietrich


Hanns Dieter Hüsch - Der Fall Hagenbuch 1983
Kittner bis zu Floh de Cologne, von Hannes Wader bis Konstantin Wecker (mit der Hymne vom Willy), und erklärt am Ende durch Hanns Dieter Hüschs Hagenbuch alle und alles für krank und verrückt. In den Achtzigern tobt Kabarett mit den Drei Tornados durch die neue Sponti- und Alternativszene, parodiert mit Thomas Freitag Kanzler Kohl ohne Ende, Erfinder der Realsatire "in diesem unserem Lande", seziert mit Gerhard Polt mentale Wurzeln, hält mit Richard Rogler die geistig-moralisch gewendete Freiheit im Zynismus aus und entdeckt mit dem aufkommenden Privatfernsehen zunehmend seinen Marktwert.

Seitdem ist parteiliches, politisch begründetes Engagement generell, hinter die reine Unterhaltung zurückgetreten. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, mit denen man einst die Verhältnisse umschmeißen wollte, wichen zum Ende des ersten deutschen Kabarettjahrhunderts häufig billigen Gags für TV-Klamauk.


Wolfgang Gruner
"Heut brauchste Humor für det, wat andere für Humor halten",
sagte Wolfgang Gruner dazu.

McKabarett?

Es ist nicht nur für das Kabarett der neunziger Jahre symptomatisch und man sollte es längst nicht allein den aktiven Künstlern anlasten: Die Globalisierung der Unterhaltungsformate, schlichter: die Übernahme von noch mehr amerikanischen Mustern, vor allem durch die Privatsender, die Einführung neuer Vermarktungsstrategien, zeitigten ihre Wirkung. Die Welt geriet wie nie zuvor zum Marktplatz der Eitelkeiten für den Tanz ums goldene Kalb. Auf dem standen schon die Enkel von Mickey, Marx und Coca Cola, bereit für durchgreifende McDonaldisierung: Formen des Kabaretts wurden TV-gefällig formatiert und aufgepeppt. Aus der Klamotte wurde die Comedy, aus dem Schwank die Sitcom (Situationskomödie, TV-Serie), aus Komikern wurden Comedians. Schnell hochgejubelt, oft platt oder roh. Im besten Falle entsteht flotte, witzige TV-Unterhaltung für Spaßverbraucher. Deren Ober-Guru Harald Schmidt machte sich in seiner nächtlichen Show mit kabarettistischen Quickies nach dem bekannten Muster "passiert - glossiert" über Gott und die Welt lustig. Schneller war keiner, dafür arbeitete er Hand in Hand mit Gag-Lieferanten und dem Boulevard als Inspirator zusammen. Josef Hader, aus der speziellen österreichischen Szene der neunziger Jahre herausragend, umkreiste in seiner ego-saftigen Performance die ewige Frage "Warum alles?" und forderte im Internet: Werdet Mitglied im Josef Hader-Fanclub.

"Koofmichs" allenthalben? Selbst auf der Etage der geistreichsten Kabarettisten? Immer mehr Künstlerinnen und Künstler nutzten die neuen Vermarktungswege über das Internet für ihre kalkulierte Arbeit am zahlenden Fan. New economy auch im Kabarett. Einmal ,name.de' auf der Brust in die Kamera gehalten, spült nach der Sendung reichlich Neugierige in den Email-Kasten. So wurde Kabarett endlich zum Dienst am Kunden: Fun for Fans, verbraucher-freundlich ballastarm. Immer mehr Kabarettisten weichen politischen Kernfragen, demokratischer Verantwortung, der Verfassungswirklichkeit, Missbräuchen, religiösen und sozio-kulturellen Brennpunkten oder wirtschaftlichen Machtkonzentrationen und ihrer echten politisch-satirischen Betrachtung aus.

Witze über das Äußere von Angela Merkel ("Name-Dropping" reicht) gelten schon als Ausweis für politisches Kabarett. Immer mehr Hörfunk-Animateure und Moderations-Wichtigtuer reden sich auf Satire raus, wenn sie lärmenden Tones mal eben die Gürtellinie auf Kosten anderer unterschreiten. Immer häufiger werden Späße über die kleinen Dinge des Alltags verbreitet, denen man in grenzenloser Verwunderung ausgesetzt zu sein scheint: Läppische Geschichtchen, wo doch klar sein sollte, dass gerade der deutsche Alltag in Ost und West oft nur durch echte Wunder zu überstehen ist.

Die deutsche Einheit förderte zu Tage, wie unterschiedlich auch die Kabaretts beider


Die Distel
Gesellschaftsordnungen waren und im Reservat ehemaliger Grenzen in Teilen auch geblieben sind. Ein Kapitel für sich, amüsant nachzulesen bei Peter Ensikat, ehedem Leiter des Berliner Kabaretts Die Distel.

Die Solisten beherrschen Ende der neunziger Jahre das Feld. Ensemblekabarett findet fast nur im Osten statt, Kabarett von Frauen fast nur im Westen. Aktuelles Kabarett mit literarischer Qualität, in der Schweiz von Franz Hohler hoch gehalten, wird rarer. Das Chansonkabarett, Sternstunden bei Georg Kreisler, fristet eher ein Nischendasein; wie es zeitgemäß funktioniert zeigen Hagen Rether, Bodo Wartke, Andreas Rebers oder Pigor & Eichhorn in eindrucksvoller Weise. Sie erhielten dafür den Deutschen Kleinkunstpreis.

Der Vater aller Kleinkunstpreise war fruchtbar: Dank Forum-Theater unterhaus Mainz und ZDF/3sat seit 1972 verliehen, folgten ihm rund zweihundert Auszeichnungen im deutschen Sprachraum. Vom Satire-Löwen bis zur Kleinkunst-Pfanne: Jeder kommt mal dran, weil die Szene sich gerne selbst auf die Schultern klopft. Da sponsern schon mal Brauereien die Verleihungen oder loben selbst dicke Preise aus.


Teil 2 in Kürze - schauen sie doch ab und zu in die Musenblätter!

© 2007: Jürgen Kessler. Geschäftsführer der Stiftung Deutsches Kabarettarchiv und Initiator der Sterne der Satire. Über Jahrzehnte Manager von Hanns Dieter Hüsch.
© der Fotos beim Kabarettarchiv

Redaktion: Frank Becker