Diskrete Sekrete (1) - Ein Rat bei Liebesleid

Glossen zu literarischen Taschentüchern

von Andreas Steffens

Diskrete Sekrete (1)
Glossen zu literarischen Taschentüchern
von Andreas Steffens
 
 
Ein Rat bei Liebesleid
 
Wieviele Taschentücher mögen bei Lektüren naß, wenigstens feucht geworden sein?
Bei den Generationen von Lesern aller Altersstufen, die Onkel Tom in seiner Sklavenhütte, die der Kleine Lord Fauntleroy in seinem Kampf gegen des Großvaters Herz, härter als Stein, zu Tränen rührte. Da mag manch ein Kindesgemüt zum ersten mal den Umgang mit jenem Stückchen Stoff gelernt haben, mit dem sich die sichtbaren Folgen der Rührung, war sie zu stark geworden, beherrschen ließen, ganz so, wie es das Gebot der Diskretion vorschrieb, das allen Sekretionen des Körpers galt, seit man in der feinen Gesellschaft Europas die Reinlichkeit entdeckt hatte.
     Später dann in Ufa-Palästen die Tränenströme aus hemmungslosem Mitleid, geweckt von erschütternden Schicksalen, der Postmeister-Tochter, von Bambi, Fury und der Love Story, erster Teil.
     Da waren die kleinen Helfer beim Verbergen dessen, was sich nicht hatte zurückhalten lassen, in ihrer Mehrzahl schon nicht mehr aus gewebtem Stoff.
     Es dürften mehr gewesen sein als die, zu denen des wirklichen Lebens Fährnisse und Bewegtheiten greifen lassen. Nichts ist so drüsenaktivierend wie die Sentimentalitäten des schönen Scheins, sei er aus Worten oder bunten Bildern gemacht, die sich bewegen, als befände man sich unter denen, die sie zeigen.
     Ob Roman, Film oder ab und an dann doch, Leben; Trennungen ziehen in der Regel den Griff zum Tüchlein nach sich. Es begleitet des Eros Abwege von gewünschten Bahnen, und wem es widerfährt jemandem zu begegnen, der gerade einen kreuzt, der tut am besten
daran, eines griffbereit zu halten.
     Wie sollte es anders sein, ist dies die Weisheit eines Romans. „In Liebesdingen, Prinzesschen“, pflegte Cesar zu sagen, „soll man nie mit Ratschlägen oder Lösungen kommen, allenfalls mit einem sauberen Taschentuch im rechten Augenblick.“
     Mit einem sauberen, wohlgemerkt, denn der erwünschten Fassung des Gemüts wäre das Gegenteil denn doch zu hinderlich, käme zum Leid noch der Ekel.
     In Arturo Perez-Revertes Geheimnis der schwarzen Dame befolgt Cesar seine Maxime und führt die Beruhigung mittels des Stoffs der Diskretion an ihr gnädigstes Ende, wie es des Todes Bruder bereitet: Und eben das tat er, als alles zu Ende war, an jenem Abend, als sie wie eine Mondsüchtige zu ihm kam, das Haar noch feucht, und dann auf seinen Knien einschlief.
     Die ältere Diskretion, die unvermeidlich gewesene Folgen der Lektüre zum Taschentuch greifen ließ, verpflichtet den jüngeren Autor auf die Ironie, mit der er diesen Griff bei seinen Figuren zu bedenken hat, will er die emotionale Verschwörung mit seinem eigenen Leser
nicht durchbrechen, die ohne das Abkommen der Distanz nicht mehr zu haben ist – „Dieses schreckliche Tuch“, hatte er wie immer theatralisch gesagt, halb im Scherz, aber hellsichtig wie eine Kassandra, „dieses Tuch, das wir schwenken, wenn wir einander für immer Lebewohl sagen“.
Aber wer täte das noch? Das eine ist so sehr aus der Mode der Umgangsformen gekommen wie das andere.



© Andreas Steffens
Redaktion: Frank Becker