Diskrete Sekrete (2) - Das unerwähnte Taschentuch

Glossen zu literarischen Taschentüchern

von Andreas Steffens

Diskrete Sekrete (2)
Glossen zu literarischen Taschentüchern
von Andreas Steffens
 
 
Das unerwähnte Taschentuch
 
Ungleich häufiger, als daß einem die Augen so weit über gehen, daß zum Tuch gegriffen werden muß, geschieht es, daß die Nase läuft. Es dürfte der häufigste Fall überhaupt sein, daß Taschentücher notwendig, weil zur Wohltat werden und ihr Mangel zum hochnotpeinlichen Ärgernis.
     Umso erstaunlicher, wie wenige. Zeugnisse es darüber gibt. Heute nur wenige Zeilen, meine beste Luise, mein Schnupfen ist ganz zum Ausbruch gekommen, ich habe dabei Gericht halten müssen, bin noch halb krank und muß morgen reisen. Gefahr ist nicht dabei, aber meine Zunge wird die Speisen kaum schmecken können, die man mir vorsetzen wird, berichtet Heinrich Christian Boie am 17. März 1782 seiner Luise Meier. Beider Briefwechsel, dieses einzigartige Dokument einer freien und selbstbewußten Weltaufmerksamkeit, die das 18. Jahrhundert seinen beiden Nachfolgern voraus hatte, berichtet von so vielem in genauen Details täglichen Lebens; von den Handgriffen, die man übte, der lästigen Begleitumstände eines Schnupfens Herr zu werden, schweigt er.
     Es gehört zum „Prozeß der Zivilisation“, sich über die Einzelheiten dessen, was in ihm zu unangenehmem geworden ist, das man zu verstecken hat, wenn es sich schon nicht vermeiden läßt, nicht zu äußern, zum Bedauern aller, die es hernach ganz genau wissen wollen, wie es denn im einzelnen gewesen sei. Das Accessoir, das einem die gerade verbindlich werdende Diskretion ermöglichte, bleibt ungenannt.
     Eben das macht sie aus, selbst darüber noch zu schweigen, wie sie zu erlangen und einzuhalten ist. Wer es nicht selber wüßte, hätte sich aus der neuen Gemeinschaft der Diskretion schon ausgeschlossen.
     Das unerwähnt gebliebene Taschentuch zeigt an, wie wichtig es geworden war, es bei der Hand zu haben.
 
 
 
© Andreas Steffens
Redaktion: Frank Becker