„Seine Augen trinken alles“

Das Frühwerk Max Ernsts im Brühler Max Ernst Museum

von Rainer K. Wick

Max Ernst Selbstporträt 1909 - Foto © Wick
 „Seine Augen trinken alles“
 
Das Frühwerk Max Ernsts im Brühler Max Ernst Museum
 
Anläßlich des Gedenkjahres, mit dem an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erinnert wird, hat der Kunstwissenschaftler und Museumsmann Thomas Schleper vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) ein umfangreiches Ausstellungsprojekt konzipiert, mit dem im Laufe des Jahres an mehreren Orten des Landes die unterschiedlichsten Facetten der Zeit um 1914 aufgefächert werden. Eröffnet wurde dieser Ausstellungszyklus schon im letzten Jahr im Bonner LVR-Landesmuseum mit „1914 – Welt in Farbe“, einer Präsentation früher Farbfotografien aus aller Welt, die erklärtermaßen eine „Friedensmission“ erfüllen und der Verständigung der Völker dieser Erde dienen sollten (noch bis 23.03.2014; Musenblätter vom 5.3.14). Die zweite Ausstellung dieses Zyklus zeigt nun im Brühler Max Ernst Museum das Frühwerk eines Künstlers, der in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts als einer der herausragenden Vertreter des Surrealismus figuriert, dessen Arbeiten aus der Vorkriegszeit den späteren Surrealisten allerdings noch kaum erahnen lassen. Präsentiert wird Max Ernst als Suchender, der begierig die unterschiedlichsten Anregungen aufnahm und der rückblickend in der dritten Person über sich selbst folgenden treffenden Satz formuliert hat: „Seine Augen trinken alles was in den Sehkreis kommt.“
 
Prägende Eindrücke vor 1914
 
1891 in Brühl bei Köln als Sohn eines Taubstummenlehrers und passionierten Laienmalers geboren, studierte er ab 1909 an der Universität Bonn Philosophie und Psychologie. 1913 las er Sigmund Freuds „Traumdeutung“, ein Schlüsselwerk der Psychoanalyse, eine Lektüre, die im späteren surrealistischen Œuvre des Künstlers ohne Zweifel ihren Niederschlag gefunden hat. Kein Zufall ist auch, daß er sich als Student mit der Bildnerei der Geisteskranken befaßte. Er schrieb: „Ich versuche, Spuren des Genies in ihnen zu erkennen und entschließe mich, diese unbestimmten und

Max Ernst, Von der Liebe zu den Dingen, 1914 - Foto © Rainer K. Wick
gefährlichen Gebiete, die der Wahnsinn begrenzt, zu erforschen.“
Neben seinen philosophischen und psychologischen Studien galt das besondere Interesse des jungen Max Ernst der Kunst. Er studierte u.a. bei Paul Clemen in Bonn Kunstgeschichte, wo er in der Abgußsammlung des kunsthistorischen Instituts figürliche romanische Kapitelle mit Tiergestalten, Fabel- und Mischwesen sah, die aus heutiger Sicht fast als Surrealismus avant la lettre gelesen werden können. Die Brühler Kuratoren haben als Auftakt der Ausstellung ein Kabinett eingerichtet, an dessen Rückwand ein Großfoto einen Eindruck der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Skulpturenhalle gibt und in dem einige der fraglichen Gipse zu sehen sind. Anregend waren für den noch suchenden Max Ernst auch die „expressionistische“ Formensprache gotischer Bildwerke, in Brühl belegt durch die „Pietà Roettgen“ aus dem frühen 14. Jahrhundert, und die künstlerischen Hervorbringungen der Naturvölker. Angezogen zeigte sich Max Ernst in jungen Jahren ferner sowohl von den „protosurrealistischen“ Bildern eines Hieronymus Bosch als auch von der Tiefgründigkeit des Romantikers Caspar David Friedrich. Unter den modernen Künstlern waren es Maler wie Gauguin, van Gogh, Matisse und Picasso, deren Bilder ihn 1912 in der legendären Sonderbund-Ausstellung am Aachener Tor in Köln beeindruckten, ferner Delaunay und Kandinsky sowie die Rheinischen Expressionisten um den Bonner Maler August Macke, dessen Stil ihn nachhaltig beeinflußte. Die Brühler Ausstellung dokumentiert diese Einflüsse nicht nur mit exemplarischen frühen Arbeiten des Künstlers, sondern auch mit hochkarätigen Referenzwerken etwa von Macke, Campendonk, Mense, Matisse und Picasso (von letzterem ein überaus markanter frühkubistischer „Frauenkopf“ von 1909 aus dem Nationalmuseum in Belgrad).
 
„Meine Bilder sollten aufheulen machen“
 
Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutete eine scharfe Zäsur. Macke, der sich freiwillig gemeldet hatte, fiel schon 1914 – nur 27 Jahre alt – in Frankreich. Ernst, der bei der Feldartillerie diente, bemerkt in beißender Schärfe: „Die Maschinenmenschen gehen aufeinander los, um zu entdecken, daß sie zwar keinen Geist besitzen, aber sterbend den Geist aufgeben können.“ Während der Kriegsjahre kam Max Ernsts künstlerische Produktion nahezu vollständig zum Erliegen. Gleichwohl entstanden einige kleinere starkfarbige Aquarelle, so „Von der Liebe in den Dingen“ von 1914 und das verrätselte Blatt „Mondfische/Kampf der Fische“ von 1917.
Im Unterschied zu Künstlerkollegen wie Otto Dix oder George Grosz, die zeichnend und malend gegen den Wahnsinn des Krieges protestierten (Musenblätter vom 12.12.13), hatte sich Ernst während der Jahre 1914 bis 1918 mit künstlerischen Kommentaren zum Kriegsgeschehen, zur Sinnlosigkeit des industrialisierten Massenmordens, auffallend zurückgehalten. Erst nach Kriegsende begann er, bildnerisch auf den Krieg zu reagieren. 1918 rief er zusammen mit Johannes Baargeld den Kölner Dadaismus ins Leben. Dada verstand sich als eine revolutionäre Bewegung, künstlerisch wie auch gesellschaftlich. Mehr noch als auf die Entweihung der geheiligten Tempel der Kunst kam es den Dadaisten auf die Demaskierung einer korrumpierten Gesellschaft an, die moralisch und materiell für den Weltkrieg verantwortlich gemacht wurde. Der Dadaismus bedeutete „eine spezielle Form des Widerspruchs von Künstlern, Dichtern, Malern, Bildhauern, Musikern gegen die Kulturschöpfungen einer Gesellschaft, die aus selbstsüchtigen Beweggründen imstande war, ... Millionen von Menschen abzuschlachten. Dada war der hektische Aufschrei des gequälten Geschöpfes im Künstler, der Aufschrei eines ahnenden, mahnenden, verzweifelten Gewissens. Im großartigen Unsinn, der den Bürger schockieren sollte, fanden diese Künstler zur Ursprünglichkeit und Natürlichkeit des Ausdrucks zurück“ – so der antifaschistische österreichische Publizist Willy Verkauf in seiner Dada-Monographie von 1957.
Vorbei war die strahlende Farbigkeit einer von Macke inspirierten Bildwelt. Max Ernst war klar, daß es unter den gegebenen politischen und sozialen Umständen nicht mehr möglich war, an die Kunst vor dem Krieg anzuknüpfen. Er schrieb: „Meine Bilder in jener Zeit sollten nicht gefallen, sondern aufheulen machen.“


Max Ernst, Hier ist noch alles in der Schwebe 1920 - Foto © Rainer K. Wick
 
Bildstrategien um 1920
 
Inspiriert von der „pittura metafisica“ Giorgio de Chiricos schuf er nun Fotocollagen, die auf dem Prinzip der Kombination des Heterogenen, des eigentlich Unvereinbaren, des logisch Unzusammenhängenden beruhten. Durch Zerschneiden, Isolieren, Drehen und Neuordnen verfremdete er vorgefundenes Bildmaterial, funktionierte es gleichsam um und gelangte zu neuen Sinngebungen. So geht es z.B. in der berühmten Collage „Die mörderische Flugmaschine“ von 1920 (Menil Collection; Houston) – die in Brühl leider fehlt – nicht primär um Formales wie bei den „papiers collés“ der Kubisten, sondern um Inhaltliches. Über einer geradezu beängstigend leeren Ebene schwebt ein seltsames Mischwesen – halb Mensch, halb Kriegsflugzeug, ein Maschinenmensch –, während am unteren rechten Bildrand ein offenbar durch Kriegsverletzungen gehunfähig gewordener Mann von zwei Helfern abtransportiert wird: in der scheinbaren Sinnlosigkeit der Bildkombinatorik ein Hinweis auf den zerstörerischen Irrsinn des großen Krieges.
Eine andere, ebenso prominente Fotocollage mit dem Titel „hier ist noch alles in der schwebe“ (1920), die in Brühl zu sehen ist (s.o.), zeigt vor der Himmelsfolie einen schwebenden „Darmdampfer“ und einen „Skelettfisch“ (Max Ernst). Insgesamt erweckt diese Montage den Eindruck von Schwerelosigkeit, und die Leugnung physikalischer Gesetzlichkeiten, hier der Schwerkraft, ist ein typisches Kennzeichen des späteren

Max Ernst, Porträt 1913 - Foto © Rainer K. Wick
Surrealismus. Es ist das Verdienst der Brühler Ausstellung, detailliert nachzuweisen, woher der Künstler sein Bildmaterial bezog und welche bildnerischen Strategien er angewendet hat. So machen die in Vitrinen ausliegenden Kriegsbücher aus der Zeit des Ersten Weltkriegs wie „Flugzeuge“ oder „Deutsches Kriegsflugwesen“ von Georg Paul Neumann nachvollziehbar, aus welchen Quellen sich Ernst noch vor Nutzung des berühmten Lehrmittelkatalogs bedient hat, und der Vergleich mit den von ihm geschaffenen Fotomontagen läßt seine schöpferische, innovative Leistung unmittelbar deutlich werden. In der Montage „hier ist noch alles in der schwebe“ hat er einen Ausschnitt aus dem Foto eines britischen Gasbombenangriffs um 180 Grad gedreht und die Giftwolke so angeordnet, daß sie anscheinend aus dem „Schornstein“ des „Darmdampfers“ ausgestoßen wird.
Nach einer längeren „Inkubationszeit“ vor dem Ersten Weltkrieg, in der sich Max Ernst Orientierung suchend mit der avantgardistischen Kunst seiner Zeit auseinandergesetzt hatte, kommt er um 1920 als Künstler ganz offensichtlich zu sich selbst, und die Weichenstellung in Richtung der späteren surrealistischen Collagen ist bereits hier deutlich erkennbar. Doch das ist ein anderes Kapitel, das nicht in dieser sehenswerten Sonderausstellung, sondern in der permanenten Schausammlung des Brühler Max Ernst Museums aufgeschlagen wird.
 
Seine Augen trinken alles - Max Ernst und die Zeit um den Ersten Weltkrieg
Max Ernst Museum
Comesstraße 42, 50321 Brühl
bis 29. Juni 2014
Zur Ausstellung ist ein lesenswerter Katalog mit 272 Seiten erschienen. Preis an der Museumskasse: 39,90 €