Wie die Brüder Grimm nach Wuppertal kamen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke 1979 - Foto © Frank Becker
Wie die Brüder Grimm
nach Wuppertal kamen
 
Von Heinz Rölleke
 
Daß ein Brief aus Japan mit der Anschrift „Professor Dr. Heinz Grimm. Wuppertal“ vor einigen Jahren (s)einen Adressaten im Tal an der Wupper, wie doch kürzlich geschehen, erreichte hätte, ist aus verschiedenen Gründen undenkbar. Denn zum einen gab und gibt es keinen Professor dieses Namens an einer Wuppertaler Hochschule, zum anderen hatte bis vor kurzem nichts und niemand die Brüder Grimm mit dieser Stadt in Verbindung gebracht, und zum dritten dauerte es trotz des Diktums Ernst Bertrams aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, Wuppertal sei eine Universitätsstadt ohne Universität, noch bis 1972, ehe es zur Gründung der Gesamthochschule kam, aus der sich dann die Bergische Universität mit der imponierenden Zahl von 14 Fachbereichen herausgemendelt hat. Einige davon genießen inzwischen überdurchschnittliche Bekanntheit und internationale Anerkennung; daß dazu die Wuppertaler Sprach- und Literaturwissenschaft gehört, davon zeugt der eingangs genannte Brief ebenso wie die Tatsache, daß die Bundespost ihn ohne jede Verzögerung zuzustellen wußte.  
 
Wie vorbehaltlos diese Universität im allgemeinen und ihre germanistische Abteilung im besonderen mit dem Namen der in aller Welt bekannten Brüder Grimm verknüpft wird, zeigt sich auf mannigfache Weise und immer erneut: Aus dem fernen Asien sind in jedem Semester etwa ein Dutzend Studierende ausschließlich wegen ihres wissenschaftlichen Interesses an Leben und Werk der Brüder Grimm in Wuppertal immatrikuliert, und wenn eine Fernsehserie wie „Mittwochs in...“ die Stadt vorstellen will, so fällt dem Moderator Walter Erasmi neben Schwebebahn und Zoo auch die Universität und dabei als erstes deren Grimm-Forschung und -forscherein, und so kommt der Germanist Heinz Rölleke einmal wieder zur Ehre des Bildschirms.
 
Wie ist es dazu gekommen? Zum ersten natürlich durch meine Berufung von der alten Kölner an die junge Wuppertaler Hochschule im Sommer 1974: es hatten auch gewisse Aussichten bestanden, ins rheinische Düsseldorf oder ins Westfälische Münster zu wechseln - daß ich mich fürs bergische Wuppertal, also die Mitte zwischen beiden, und Wuppertal sich für mich entschied, betrachte ich übrigens zumindest meinerseits rück- und vorausblickend uneingeschränkt als einen Glücksfall. Zum zweiten brachte ich das im Manuskript abgeschlossene Buch „Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm“ mit an die neue Wirkungsstätte, das nach seinem Erscheinen im Jahr 1975 die Aufmerksamkeit der Medien in einem Maß auf sich zog, das für wissenschaftliche Publikationen ganz ungewöhnlich ist. Dabei war es noch nicht einmal so besonders erstaunlich, daß sich einige überregionale Zeitungen des Themas annahmen, sondern daß die „Bild“ Zeitung am 30. Oktober 1975 mit der Überschrift „Der gestiefelte Kater ist ein Franzose“ aufmachte und ihren Kommentar dem Thema „Märchenstunde“ widmete. Danach gab es für die Medien kein Halten mehr: „London“ und „New York Times“, „Jerusalem Post“ und „De Volkskrant“ erzählten es ihren Lesern: „Roodkapje kwam uit Frankrijk“, und „Heinz Roelleke, hoogleraar.in de Duitse letterkunde in Wuppertal“ hatte es herausgebracht. Aber auch die Rundfunk- und Fernsehleute lasen damals noch „Bild“. Es hagelte Einladungen, und es folgte ein erbitterter Meinungsstreit - nicht in der wissenschaftlichen Diskussion, denn in dieser Hinsicht waren und blieben Entdeckungen und Beweisführungen unbestreitbar, aber in Kreisen, die sich ihren Mythos vom „urdeutschen“ oder „stockhessischen“ Märchengut der Brüder Grimm nicht rauben lassen wollten. „Old Mary - why not?“ echote es sogar aus hessenkundigen Kreisen in den USA, um den zur Schimäre verblaßten Typus des uralten, unge- oder unverbildeten, jedenfalls urtümlich erdverbundenen Märchenbeiträgers zur Grimmschen Sammlung zu retten, während die „Deutsche National- und Soldatenzeitung“ die Entdeckung „kleinlich und wertlos" nannte und sie einem „allzu eifrigen Antideutschtum, welches Anhänger auch in der akademischen Elite hat“, zuschrieb; und man war dieserorts noch am 7. Mai 1976 zuversichtlich, daß solche Forschungen später als „wertlos verworfen“ würden.
 
Das ist bis heute nicht geschehen und steht auch nicht zu erwarten. Daß aber an der Wuppertaler Universität eine Grimm-Forschung betrieben wurde und wird, die zuweilen einigermaßen aufregende Ergebnisse zeitigt, das hat sich „Bild“ sei Dank auch in Kreisen herumgesprochen, die solches Tun sonst eher als irrelevant oder bestenfalls als langweilig einzustufen geneigt sind. Und natürlich bleibt das Thema genauso auf der Tagesordnung wie Grimms Märchen, das berühmteste und meistübersetzte aller deutschen Bücher: Findet in Thailand, Indonesien, Korea, Japan oder in den USA einer der gar nicht so seltenen Kongresse zur Grimmschen Märchensammlung statt, dann ist eben Wuppertal so gut wie immer präsent: Auch geisteswissenschaftliche Forschung kann ein Exportschlager werden oder zumindest gründliche PR-Arbeit leisten!
 
Selbstverständlich gilt das für nur wenige literaturwissenschaftliche Themen; indes: Wer sich mit Grimms Märchen befaßt und dazu öffentlich etwas von einiger Relevanz sagt, der kann hoffen oder muß fürchten, auf ein ähnlich großes und mannigfach differenziertes Interesse zu stoßen wie dies unverwüstlich aktuelle und populäre Buch selbst. Im Konzert der unzählig vielen Märchendeuter jeglicher Provenienz (es sei an die Psychologen, die Theologen, die Pädagogen, die Volkskundler, die Mythenforscher usw. erinnert) spielt die Wuppertaler Forschung einen eigenen und längst unverwechselbaren Part. Es geht um die präzise Ermittlung der Herkunft sowie philologisch genaue Untersuchungen der Textkonstitution, -wandlung und -bedeutung dieser weltberühmten Geschichten vom Dornröschen, Aschenputtel, Schneewittchen, Rapunzel und wie sie alle heißen. Die Quellen wurden überraschend oft in alten Büchern (also jenseits der direkten mündlichen Überlieferung) sowie vor allem in Kasseler Erzählerinnen noch sehr jugendlichen Alters und durchweg hoher Bildung entdeckt, von denen die bedeutendsten hugenottischer Abstammung und daher mit der französischen (Märchen-) Kultur vertraut waren - ein weiterer schöner Beweis für einen gemeineuropäischen Märchenschatz und grenzüberschreitende Traditionen. Die seinerzeit ebenfalls noch sehr jungen Brüder Grimm - sie begannen als knapp Zwanzigjährige ihr Sammelunternehmen - gingen ihrerseits vor allem mit den ihnen mündlich zugekommenen Märchen relativ freischaltend um. Sie glaubten sich ganz im Geist ihrer Zeit berechtigt, die ihnen oft etwas unansehnlich, zerlumpt und sozusagen ungewaschen zu Ohren gekommenen Texte erst ein wenig in Ordnung bringen, ausstaffieren und kämmen zu dürfen, damit solche Aschenputtel dem damaligen Lesepublikum überhaupt erst präsentabel wurden. Der Erfolg gab ihnen recht und sollte kurzatmige Kritik überhaupt verstummen machen, die in der Regel nicht geneigt ist, das Grimmsche Märchenbuch wie jedes andere unter den Voraussetzungen und Bedingungen seiner Zeit zu sehen; und die Intentionen waren nun einmal 1810 anders als zu jeder anderen Zeit. In der Erforschung der Grimmschen Bearbeitungstendenzen und -praxis sind meine Mitarbeiter, einige meiner Studenten und ich inzwischen ein gutes Stück vorangekommen. Gemeinsam erstellte Bücher über den handschriftlichen Märchennachlaß der Brüder Grimm sowie über ihr schlichtweg geniales Verfahren, ihre Texte in jedem Fall volkstümlich auszugestalten (besonders durch Einfügung sprichwörtlicher Redensarten, die jeder kannte oder kennt), ferner ein kommentierter Faksimile-Druck des Grimmschen Handexemplars von 1812/15 geben dafür ebenso beredt und erfolgreich Zeugnis wie zahlreiche Einzelstudien zu bestimmten Märchen, zu den Lebenszeugnissen (Briefe, Tagebücher) wie zur Familie Grimm in ihrer Zeit. Äußere Anerkennung fanden diese Leistungen durch (allerdings spärliche und leider nur teilweise) ministerielle Förderung aus Düsseldorf, vor allem aber durch Verleihung des hessischen Staatspreises für die Grimmforschung sowie des Preises der Akademie für Kinder- und Jugendliteratur für die Märchenforschung.
 
Auch wenn Vorlesungen und Seminare über Märchen und Märchenforschung bei den Wuppertaler Studenten zu den beliebtesten und meistbesuchten gehören, können diese Themen innerhalb des gesamten Forschungs- und Lehrbetriebs natürlich nur im Zusammenhang mit und neben vielen anderen behandelt werden. Daß es an der Wuppertaler Universität auch auf meine Anregungen hin unter anderm viel übers Volkslied, über die Westfälische Dichterin Annette von Droste-Hülshoff, besonders aber über Hugo von Hofmannsthal (ich leite seit einiger Zeit das große Projekt einer kritischen Gesamtausgabe) gearbeitet wird, sollte über dem liebenswürdig gemeinten, aber doch etwas engen Titel „Märchenprofessor“, den mir die Medien verliehen haben, nicht übersehen werden; noch Weniger natürlich die Tatsache, daß ich in einer Kollegenschaft ausgezeichneter und in ihren wissenschaftlichen Spezialgebieten (es seien stellvertretend nur die Themen Bildgedichte, Wieland-, Lessing- und Tieck-Forschung, Bildungsroman, Kafka, Doderer und Böll genannt) weltweit anerkannter Germanisten arbeiten darf. Trotz der wachsenden Studentenflut ist es bislang gelungen, die Strukturen in dieser Wissenschaftsdisziplin überschaubar zu halten; wir nehmen uns Zeit, und wir haben sie gottlob noch immer für jeden Studierenden gleich welchen Semesters und gleich welcher Nationalität, wenn nur Interesse, zureichende Begabung und vor allem philologischer Fleiß erkennbar sind. Damit steht die Wuppertaler Germanistik in einer guten Tradition von Tugenden, die in diesem Fach niemand so früh und so vorbildlich verwirklicht hat wie die Universitätsprofessoren Jacob und Wilhelm Grimm. Unter solchen Auspizien läßt es sich gut forschen, lehren und leben - auch und gerade im Tal der Wupper.  
 

 
© 1991 Heinz Rölleke


Anm. d. Red.: Dieser Aufsatz Prof. Dr. Röllekes aus dem Jahr 1991, hat heute, 23 Jahre danach – sieht man von den seinerzeit aktuellen und heute von der Zeit eingeholten Fakten ab – noch immer seine Gültigkeit. Denn wie damals ist die Grimmforschung mit dem Namen Heinz Rölleke eng und untrennbar verbunden. Wir danken Herrn Prof. Rölleke für die Erlaubnis des Abdrucks. Weitere Artikel werden folgen.
 
Aus: „Wo wir uns finden - Ein bergisches Lesebuch“, herausgegeben von Jochen Arlt und Doro Dietsch, Rhein-Eifel-Mosel-Verlag, Pulheim bei Köln 1991, damals DM 29,80. Das Buch ist bei vielen Anbietern antiquarisch zu finden.