Die Frau, die sich auf den Boden warf

von Karl Otto Mühl

Die Frau, die sich auf den Boden warf
 
Bücherleser werden sofort wissen, an wen ich mich mit dieser Überschrift anlehne. Ihn sah ich im TV, den Autor von „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster sprang“. Ich sah einen Skandinavier, vierschrötig, gelassen, zufrieden wirkend; mit skandinavischem Gesichtsausdruck bei skandinavischem Lächeln. Ein Mann, dem man Vertrauen schenkt.
Das Buch habe ich gelesen. Acht Millionen Leser haben es gekauft und sicherlich ihren Spaß gehabt.
 
Und, als heute Morgen eine unserer grauhaarigen Kaffeegenossinnen in der Bäckerei ihre Freundin Ingelore mitbrachte und wir deren Geschichte anhörten, war auch sofort dieser Titel da: „Die Frau, die sich auf den Boden warf“.
Als Vierjährige hatte Ingelore nämlich die Flucht vor den Russen aus Ostpreußen erlebt, wo sie sich bei angreifenden Tieffliegern immer auf den Boden warf. Und bei diesem Geräusch anfliegender Maschinen habe sie sich mit Zwanzig immer noch auf den Boden geworfen, erzählte sie, und das, bis sie eine Heilerin nach traditioneller Chinesischer Medizin fand, die sie in Gesprächen von diesem Zwang heilte.
Das hat Ingelore also hinter sich, und jetzt könnte jemand das Buch mit dem obigen Titel schreiben, das dann hoffentlich acht Millionen Mal verkauft würde.
 
Ich werde es nicht schreiben. Ich habe schon längst beschlossen, keine Geschichten mehr zu schreiben. Ich finde die gelesenen oder von mir erfundenen Geschichten langweiliger als das Leben selbst, das ich führe und das mir begegnet. Vielleicht bin ich auch einfach zu träge geworden.
Die Geschichte von Ingelore ist also verfügbar.
Ihre Geschichte ist natürlich über das Hinwerfen hinaus weitergegangen. Ingelore hat eine Lehre gemacht, geheiratet und ein Mädchen geboren, sich nach acht Jahren scheiden lassen, geputzt, war Verkäuferin, pflegte vierzehn Jahre ihre kranke Mutter, besuchte Schulen, leitete eine Verkaufsfiliale, wurde bei der Sparkasse eingestellt, leitete irgendwas und blieb da achtundzwanzig Jahre, wurde sehr krank und mußte sich pensionieren lassen, entwöhnte sich unter  Aufsicht ihres Arztes in  fünf Jahren von den angeblich lebenswichtigen Medikamenten, begann Sport zu treiben und vermutlich auch, sich mit modernen Heilmethoden anzufreunden, vielleicht Imagination und Körpertherapie – bis sie mit Siebenundsechzig auf den Gedanken kam, etwas ganz Neues anzufangen.
 
Sie löste ihre Vierzimmerwohnung auf und kaufte sich auf einer Wohnwagenmesse ein supermodern ausgerüstetes  Wohnmobil, mit dem sie jahrelang durch Welt fuhr, zum Beispiel nach Marokko, und das ganz allein.
Und jetzt? Na ja, sagte sie lächelnd, im Augenblick stehe das Wohnmobil auf dem Hinterhof eines benachbarten Fliesenlegers, den ich übrigens kenne. Wie bei allen Menschen, ist auch sein Leben ein Roman, der aber nicht hierhin paßt.
Und da wohne sie jetzt, frage ich Ingelore? „Nein“, sagt sie, „ jetzt wohne ich probeweise bei meinem Liebhaber. Es geht erstaunlicherweise gut.“ Sie fügt hinzu, man müsse immer wieder neu anfangen können, das Gestern beiseite schieben,. Morgens ans Fenster treten und wissen, dass alles neu beginne.

Ingelore ist jetzt Zweiundsiebzig. So weit ist es eine wunderbare Geschichte, die Vielen das Herz erwärmen wird. Bloß, ich werde sie, wie gesagt, nicht schreiben.
Nicht nur, weil mich Geschichten nicht mehr so sehr interessieren wie mein Leben, sondern,  weil in meinen Notizen hier natürlich eine Dimension fehlt – die Dimension eines oft einsamen, geängstigten, zweifelnden Lebens.
Sie fehlt, weil ich sie nicht kenne. Ingelore wird sie freilich kennen, denn  sie sagte auch: „Demut braucht man zum Leben. Ich habe sie immer gebraucht.“
 


© 2014 Karl Otto Mühl 
Erstveröffentlichung in den Musenblättern