Matthias Neumann - Fotografien

von Johannes Vesper

Busteni 1 - Foto © Matthias Neumann

Matthias Neumann ∙ Fotografien
 
Fotografien gelten als Abbilder der Welt. Photoapparate und Objektive dienen in der Regel der scharfen und farbechten Abbildung von Objekten oder Bildausschnitten der sichtbaren Welt. Nicht so bei Matthias Neumann, der zur Zeit seine Bilder in der Wuppertaler Gemeinschaftspraxis Bergstraße ausstellt. Seine Fotografien bilden nicht direkt ab, sind bei seinen Spiegelungen und vor allem bei den Verwischungen unscharf und lassen Menschen, Gebäude und Landschaften nur erahnen. Seine Fotografien sind keine statischen, sondern bewegte Bilder. Zunächst kam die Bewegung der Bilder durch Spiegelungen im bewegten Wasser zustande. Die Dinge wurden also nicht direkt betrachtet. Hier entspricht Neumanns Fotografie der modernen Physik, bei der ja das Ding an sich schon durch den Versuchsaufbau bzw. durch das Experiment, durch die Betrachtungsweise sein Wesen ändert. Neumanns Spiegelungen in bewegtem Wasser bieten verzerrte, oszillierende Bilder unserer Umgebung. Nicht nur durch bewegte Wasserflächen, auch bei der Betrachtung der Welt durch teilweise abgeplatzte Straßenspiegel wird unsere Wahrnehmung der Welt unscharf und unsicher. Alles steht hier in Frage.
 
Später reichte dem Fotografen für die Bewegung seiner Bilder die Spiegelung nicht mehr. Jetzt mußte sich der Fotograf bewegen bzw. seine Kamera bewegt werden. Seine „Verwischungen“ entstehen nicht durch zu schnelle Bewegungen der Bildobjekte wie bei der verwackelten Aufnahme des Fotoamateurs, sondern durch gezieltes Verreißen der Kamera bei langen Belichtungszeiten. Die Bewegungen der Kamera paßt Neumann bei seinem Vorgehen dem Licht und der fotografischen Situation an. Dabei kommt es zu heftigen und ausgreifenden Bewegungen des Fotografen und auch zu plötzlichen kurzen Bewegungsstops. Man muß ihn sich wohl am besten als tanzenden Derwisch vorstellen - als den, der mit der Kamera tanzt. Seine Bewegung beim Fotografieren hat vielleicht etwas mit Musik zu tun. Schließlich ist dieser Fotograf Musiker. Musik entsteht durch Bewegungen des Musikers, der als Streicher mit Händen und Armen agiert, um sich musikalisch auszudrücken, um den Zuhörer an seiner inneren Bewegung teilnehmen zu lassen. Bei der Fotografie von Neumann entsteht durch Bewegung des ganzen Fotografen, der dabei nur kurzzeitig physisch den Boden unter den Füßen verliert, sein künstlerisches Moment. Er selbst hat von „Lichttänzen“ gesprochen. Mit seiner Motorik gibt es eine Analogie zwischen Musik und Fotografie. Seine innere Bewegung und Musikalität fließen so in die Photographien mit ein. In seinen Photographien möchte Neumann mit dem Betrachter kommunizieren. „Leerstellen auf meinen Bildern führen zu Verbindungen, die der Betrachter herstellt in der Kommunikation zwischen Künstler und Betrachter“ schreibt er. Seine Fotos sind an den Betrachter adressiert. Es geht ihm nicht um Erinnerungsfotos, nicht um die sachliche Katalogfotografie. Er will mit seinen Bewegungsfotos wie mit seiner Musik direkt in den Bauch, also in die Seele, will Emotionen wecken. Musik und Neumanns Fotografie gehören zusammen. Das geht bis zur Wahl des Titels einzelner Fotos, z.B. das Blatt BWV 846.
Und der Betrachter? Der schaut bewegt auf diese Bilder, tastet sie wie auch alle anderen Objekte mit sich bewegenden Augen ab. Aus den verschiedenen Bildern, die durch die Augenbewegungen entstehen, setzt das Hirn, bzw. die Sehrinde des Gehirns das Bild des betrachteten Gegenstands so zusammen, daß der Betrachter mit dem Bild etwas anfangen kann. Neumann will solche Augenbewegungen mit der Bewegung der Kamera bei der Aufnahme sozusagen vorwegnehmen. Der Eisenbahn-Nystagmus - langsam folgen die Augen dem Gegenstand bevor sie im Vorbeifahren schnell zurückgestellt werden – ist bekannt. So ein Nystagmus tritt auch bei Drehschwindel auf. Es handelt sich um ein physiologisches oder auch pathologisches Augenzittern und Neumann spricht in Analogie dazu gelegentlich von seiner Photographie als einer Nystagmofotografie.


Burger 10 - Foto © Matthias Neumann
 
Neumann benutzt eine Mittelformatkamera mit einer Rückwand von 5x7 cm.. Die große Rückwand führt dazu, daß Bewegungsartefakte, Verwischungen deutlicher und klarer auftreten. Er arbeitet bei den Aufnahmen immer analog, was bei den teilweise großen Formaten eine Herausforderung an das das Fotolabor bedeutet. Er selbst hat eine Dunkelkammer im Keller und hat sich dafür selbst das Vergrößerungsstativ gebaut. Nur sehr große Formate werden in Düsseldorf in einem Speziallabor hergestellt.
 
Was ist auf Neumanns Fotografien dargestellt? Es gibt eine Art Architekturfotografie. Auf den Bildern sind unscharfe, verwischte Gebäude zu sehen. Die Gebäude können nicht identifiziert werden, mal denkt man einen riesigen Bunker, mal an die Neue Nationalgalerie in Berlin, mal an die Glasarchitektur eines Helmuth Jahns.
Was ist denn das eigentlich für ein Bild mit dem Namen „Planet“? Es stellt die Kante einer Eisfläche auf einem See dar. Das Bild wurde unter hohem Risiko des Fotografen aufgenommen, denn das dünne Eis, auf dem er bei der Aufnahme lag und seine Kamera auf dem Stativ nach vorne zur Eiskante hin manipulierte, hätte jederzeit brechen können. Die Abbildung einer Eisfläche mit ihrem freien Rand im Wasser eines Sees ist als solche zunächst nicht zu erkennen. Durch den Titel „Planet“ wird der Betrachter beim Anschauen der Strukturen des Bildes auf die falsche Fährte gelenkt. Das trifft auch für andere Eisbilder zu. Er schaut, erkennt Strukturen und läßt seinen Assoziationen freien Lauf.  
Geradezu bestürzend sind die Fotos von Personen, deren Konturen, deren Identität sich auflösen. Das sind keine Porträts. Diese Bilder erinnern an die Francis Bacons in der Malerei. Was ist der Mensch? Mit solchen Bildnissen wir die Frage nach der Identität des Menschen gestellt.
Andere Fotografien zeigen verwischte Landschaften in Schwarz-Weiß, aber auch in Farbe, die mit den Berglinien in ihrer verwischten Nebeligkeit an die Bilder Caspar David Friedrichs erinnern oder auch an Aquarellmalerei mit verlaufenden Farbgrenzen. Neumanns Fotografie hat viel Malerisches. In die schwarz-weißen Bilder von kleinen Landschaftsausschnitten mit unscharfen dunklen Wäldern hinter hellem Vordergrund oder in einem einzelnen verwehten Baum auf freier Fläche. In diese Bilder, in diese Ur-Bilder möchte man sich geradezu hinein begeben. Durch Blicklenkung wird mit diesen Bildern eine Verdichtung der Zeit und ungeteilte Aufmerksamkeit des Betrachters erreicht. Diese Photographien geben Ruhe, geben dem Betrachter Zeit, der dabei weniger an den mit der Kamera tanzenden Fotografen denken wird als an sich selbst und seinen Ort in dieser Welt.

Wind - Foto © Matthias Neumann
 
Seit seiner Jugend interessiert sich Matthias Neumann für Fotografie und hat sich damit in unterschiedlichen Lebensphasen in wechselnder Intensität und Ergiebigkeit beschäftigt. Dieser Fotograf ist Bratscher im Wuppertaler Sinfonieorchester. Sein Studium der Fotografie schließt er 2012 mit der Master-Arbeit ab. Neumanns „Spiegelungen“ entstanden zwischen 1999 und 2003. in den folgenden Jahren entstehen die „Verwischungen“. Ganz neu sind die Wimmelbilder. Was sind Wimmelbilder? Wir haben Neumanns Bilder dieser Art so genannt, und wer kleine Kinder um sich hat, der kennt Wimmelbilder. Auf großem Format findet sich eine Unzahl von Tieren, Pflanzen Menschen, wimmelt es von zahllosen Details – es gilt immer wieder hinzuschauen und neue Einzelheiten zu entdecken und zu benennen. Das Betrachten solcher Wimmelbilder ist für jeden, der da mit gucken darf, ein Riesen-Vergnügen.
 
Die „Wimmelbilder“ unseres Fotografen sind neueren Datums. Matthias Neumann schießt bei stundenlanger Beobachtung der darzustellenden fotografischen Situation meist mit Weitwinkelobjektiv eine Unzahl Bilder. Anschließend wird das Interessanteste herausgesucht. Man sieht Szenen am Strand oder auf belebten Plätzen ohne Verwischungen. Man sieht scharf abgebildet viele Menschen am Strand und viele Drachen am Himmel. Erstaunlich welche Beziehungen zufällig auf diesen Bildern dargestellt sind. Dabei dienen Strand und Himmel eher als neutrale Hintergründe für die dargestellten Personengruppen, die voneinander getrennt ihr Eigenleben führen. Hier wird durch Blicklenkung der Betrachter animiert mit ungeteilter Aufmerksamkeit alle Einzelheiten zu identifizieren und die Beziehungen zwischen den dargestellten Personen und Personengruppe zu analysieren.
Ein Einzelstück ist sein riesiges Foto „Sprengung“, welches seit fast einem Jahr im 1. Stock des Rathauses Elberfeld hängt. Es ist ein Blick in den leeren, großen Saal der Stadthalle, wobei aber für den Betrachter durch einen von der Decke herabhängenden schwarzen Vorhang die Zentralperspektive des Raums zerstört wird.


Sprengung - Foto © Matthias Neumann
 
Seit dem 30.03.14 bis auf weiteres in der Gemeinschaftspraxis Vesper + Schemberger, Bergstr. 5-11, 42105 Wuppertal
- während der Sprechzeiten: www.gemeinschaftspraxis-bergstrasse.de
Weitere Informationen zum Künstler unter matthias-neumann.com