Lag Mykene bei Kopenhagen?

Felice Vinci - „Homer an der Ostsee“

von Friederike Hagemeyer

Lag Mykene bei Kopenhagen?
 
Von Friederike Hagemeyer
 
Seit der Antike geben die Dichtungen Homers Rätsel auf, sei es die geheimnisumwitterte Person des Autors selbst, die bis heute nicht identifiziert werden konnte, seien es Differenzen zwischen den geographischen Angaben Homers in Ilias und Odyssee und den tatsächlichen Örtlichkeiten im östlichen Mittelmeer - Anlaß genug für immer neue Spekulationen darüber, wo Troja denn nun wirklich lag, wohin es Odysseus bei seinen Irrfahrten in Wahrheit verschlug und wo seine Heimatinsel Ithaka eigentlich zu finden ist.
 
Mit „Homer an der Ostsee“, erschienen 2012 im Bautz-Verlag, legt der italienische Atomphysiker Felice Vinci jetzt seine Überlegungen zur Lösung der vielen Widersprüche bei der Lokalisierung der mythischen Orte vor.
 
Die Achaier kamen von der Ostsee
 
Vincis Kernthese besagt, daß der Trojanische Krieg nicht im Mittelmeer sondern im Ostseeraum ausgetragen wurde, der „ursprünglichen Heimat der blonden langhaarigen' Achaier.“ (S. 46) Weil am Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends in Nordeuropa eine Klimaverschlechterung eintrat, waren die Achaier gezwungen, sich nach Süden in Richtung Mittelmeer aufzumachen. Ihre Epen, ihre Mythologie und ihre Erinnerungen an die Örtlichkeiten der alten Heimat nahmen sie mit. Im neuen Siedlungsgebiet belegten sie Orte und Landschaften mit den vertrauten Namen aus ihrem Ursprungsgebiet; dabei kam es zu Ungenauigkeiten, die in der Dichtung Homers überdauerten. Bis heute schlägt sich die Forschung damit herum.
Vinci überträgt die geographischen Angaben Homers auf den Ostseeraum - und siehe da - die Widersprüchlichkeiten lösen sich in Nichts auf, alles paßt - so behauptet jedenfalls Felice Vinci.
Danach wäre Ithaka die kleine Insel Lyø, südwestlich von Fünen, die Peleponnes als „fruchtbare Ebene“ wäre die dänische Insel Seeland, Mykene hätte bei Kopenhagen gelegen und Athen bei Karlskrona.
 
Rein geographische Argumentation
 
Vinci charakterisiert seine Arbeit selber als im wesentlichen „geographischer nicht historiographischer Natur“ (S. 47)    Aber reicht das wirklich aus, um einen solch radikalen Angriff auf die bisher gültigen Forschungstraditionen zu starten?
Außer der beiläufigen Bemerkung, dass im zweiten Jahrtausend v.Chr. im Ostseeraum die „Bronzezeit florierte“ (S. 40) gibt es keinerlei archäologische Unterfütterung  -  da hätte man sich doch mehr Ausgrabungsbelege gewünscht.
Aber bleiben wir bei der Geographie; auch hier ist es mit Vincis „Beweisen“ so eine Sache. Viel ist von Ähnlichkeiten die Rede, wie z.B. von den „vielsagenden Ähnlichkeiten“ in der Geographie Südnorwegens. (S. 36) Ganz besonders haben es dem Autor Ortsnamen angetan, die „erstaunliche Ähnlichkeiten“ mit denen der Ilias aufweisen (S. 37) oder auch „Namen mit morphologischer Ähnlichkeit“ mit denen im Mittelmeerraum, z.B. „Toija (= Troja), ein friedliches finnisches Städtchen, das von seiner glorreichen und tragischen Vergangenheit nichts weiß“. (S. 38)  -  Vielleicht zu Recht? fragt sich der Leser da unwillkürlich.
Und es geht weiter: Der Name der Stadt Neksø auf Bornholm weist nach Vinci auf die griechische Insel Naxos hin (S. 42) und der Name der kleinen schwedischen Insel Fårö an der Nordspitze Ölands auf das homerische Pharos. (S. 42)
Hier hat sich Vinci nun vollends vergaloppiert, denn Neksø heißt (lt. Nudansk ordbog, 1982) übersetzt etwa „See des Nöck“ (Nöck = Wassermann, Wasserungeheuer) und Fårö hat mit Pharos rein gar nichts zu tun, es heißt schlicht „Schafsinsel“.
Dennoch folgert Vinci, „daß eine derartige Zahl von geographischen … [und] toponymischen … Parallelen nicht auf bloßem Zufall beruhen können.“ (S. 46)
Ein weiterer Kritikpunkt sei noch angeführt: Bei seinen Vergleichen der homerischen Geographie und der des Ostseeraumes legt Vinci heutige Karten mit den heutigen Küstenverläufen zugrunde. Die Ereignisse aber, die nach Vinci in die Mythologie der Achaier eingingen, trugen sich vor ungefähr 4.000 Jahren zu. Wer sich auch nur ansatzweise mit der Entstehungsgeschichte der Ostsee beschäftigt hat, weiß, daß die Küstenlinien vor 4.000 Jahren deutlich anders ausgesehen haben können, denn schon wenige Meter Anstieg oder Absinken des Meeresspiegels reichen aus, um aus den flachen Ostseeinseln Festland werden zu lassen oder aus Festlandsteilen Inseln. Wer weiß, welche geographischen Küstensituationen die Achaier in ihrer Erinnerung mit auf den Weg nach Süden nahmen?
 
Umfangreiche Fleißarbeit
 
Mit Felice Vincis Werk legt der Verlag Traugott Bautz einen sehr umfangreichen Broschurband von 676 Seiten zum Preis von 50,- € vor. Leider sind die beigefügten Karten von wirklich schlechter Qualität, so daß der Leser die geographischen Angaben, auf denen Vincis Argumentation ja ausschließlich beruht, überhaupt nicht nachvollziehen kann.
Zu bewundern ist, mit welchem Fleiß die Details „zweier wohldefinierter Datensätze“  -  so etwas hochtrabend der Verlagsprospekt  -  miteinander verglichen werden; aber weiter geht die Bewunderung keinesfalls, denn die Untersuchung ist ganz einfach oberflächlich (s. Ortsnamenvergleich), die Geographie allein als Argumentationsgrundlage, zumal auf heutigen Küstenverläufen basierend, ist ausgesprochen dünn und Vincis Schlußfolgerungen sind mehr als gewagt. Etwas weniger, dafür aber beweiskräftigere Details, ein paar Gedanken mehr zur Archäologie und Geschichte hätten Vincis These überzeugender gemacht, aber vor allem mehr Sorgfalt und Gründlichkeit hätten der Arbeit gut getan  -  so ist sie ganz einfach nur ein Ärgernis.
 
Felice Vinci - „Homer an der Ostsee“
Ilias und Odyssee kamen aus Nordeuropa
Übersetzt von Chris Überla
© 2012 Verlag Traugott Bautz GmbH, 676 S., broschiert -  ISBN 978-3-88309-760-2
50,- €
 
Weitere Informationen:  www.bautz.de