Rhein und wahr

Aus dem Tagebuch

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Was wirklich Angst macht
 
10. Juni: Das Leben (Ein Mann, verkleidet als König, steht in einem Kiosk und klagt): „Das Leben kann so´n Arsch sein. So´n Typ mit Schlagring und Bullterrier. Der an der Ecke steht, wo Du her mußt. Und der dann ganz laut lacht und auf den Boden rotzt, bevor er irgendeinen Stumpfsinn brüllt, der dich ganz kirre macht. „Na Dumpfbacke“, sagst du dann, „wenn ich vor Dir Angst haben soll, dann gib dir Mühe. Fällt Dir nichts anderes ein, um wirklich Schrecken zu verbreiten? Soll ich mich vor deinen häßlichen Totenkopf-Tattoos ekeln? Soll dein Schlagring mir Furcht einflößen? Warum soll ich unter meinem Niveau Angst haben? Gewinnen im Film nicht immer die Guten und Sanften? Ich sag dir gerne, wovor ich wirkliche Angst habe. Der Briefumschlag des Finanzamtes versetzt mich in Schrecken. Der Pfandflaschenautomat, der immer wieder Pfandflaschen ausspuckt, ist mein Horrorszenario. Ich bibbere vor der unfreundlichen Bedienung im Domcafe und verzweifle vor der leeren Papierhandtuchbox auf dem Klo. Werde also kreativ, Arschgesicht. Laß Dir was einfallen, um mich zu schocken. Lächle mal, das würde mich umhauen.“  
 
12. Juni: Ich hatte sein Klagen nicht ernst genommen. Ich dachte erst noch, da will sich jemand wichtig machen. Will außer der Reihe Streicheleinheiten. Ich habe nicht gewußt, daß sich Kraftlosigkeit so ankündigt. Man nennt dieses „am Ende sein“ auch Burnout. Da kommt kein lautes Klagen, sondern nur ein Wimmern. Ich meine, ich war noch im Gespräch gewesen und hatte wichtige Dinge zu klären, da kann man Unregelmäßigkeiten nicht brauchen. Später sah ich dann, daß sein Akku leer war. Er war völlig ausgebrannt. Die Batterie im Display stand auf leer. Da war nichts mehr. Da hatte jemand alles gegeben und keiner verstand die Zeichen der Leere. Bis ich dann geschaltet habe, sind nochmal wertvolle Minuten vergangen. „Bitte den Hörer zur Aufladestation bringen. Bitte den Hörer zur Aufladestation bringen.“ Ich habe dann einen Bombensprint hingelegt, um meinen Kommunikationsapparat auf die Ladestation zu stecken. „Das ist mein Hörer. Bitte tun sie alles, damit das letzte Wort zwischen uns nicht „Fuck“ war, Herr Doktor.“ Das war ein Aufatmen. Das Display strahlte vor Glück. Es leuchtete. Die Batterie sog sich mit Energie auf. Muß ich mir nun Vorwürfe machen? Habe ich zu lange mit Mutter gesprochen, oder sie mit mir? Wurde ich bestraft, weil ich den Hörer dabei vor der „Ja, ja, Mutter. Das machst Du schon“-Schleife geklemmt habe? Mein Kontakt zur Welt, mein zweites Zuhörohr, muß völlig ausgebrannt gewesen sein. Das war nochmal gut gegangen. Später sprach ich wieder mit ihm. Es waren keine Folgeschäden zu bemerken, obwohl mein nächstes Gespräch sehr unangenehm war. Wann geben wir auf? Wann erscheint uns der Einsatz sinnlos?
 
 
 © 2014 Erwin Grosche für die Musenblätter