Die Schlange

von Hanns Dieter Hüsch

© Jürgen Pankarz

Die Schlange
 
Früher, als ich, früher war das noch viel schlimmer, als ich anfing - Komiker zu werden, vor über vierzig Jahren, um Gottes Willen. Aber in der letzten Zeit habe ich die Dinge wieder mehr im Griff Also wenn ich früher in einer Schlange stand, Bundesbahn oder Post oder überhaupt einkaufen, da stand ich meistens immer ganz hinten, ganz merkwürdig, ich stand immer ganz hinten. Ja, ich weiß es nicht, ich kann es nicht, im nachhinein kann ich es nicht mehr erklären. Also, es gab keine Schlange, wo ich vorne stand, ich war zwar nie der Letzte, aber immer der Vorletzte, immer der Vorletzte. Ja, entweder waren die anderen früher aufgestanden oder hatten schneller gefrühstückt, waren schneller gelaufen oder wohnten einfach günstiger. Ja, Sie müssen, wenn Sie heute Abend nach Hause kommen, müssen Sie sich mal fragen, ob Sie günstig wohnen. Das ist ganz wichtig, das macht am Ende Ihres Lebens etwa drei bis vier Jahre aus. Ja, lachen Sie jetzt nicht! Sie merken das jetzt noch nicht, Sie leben einfach so in den Tag hinein, ich wohne zur Zeit ganz günstig, aber ich hab lange Zeit auch ganz ungünstig gewohnt. Ich weiß noch nicht, wieviel Jahre es für mich werden, ich werde es ja sehen, nicht wahr. Jedenfalls, ich hatte sie damals alle vor mir, die Glücklichen in der Schlange, da hab ich immer gesagt: „Macht nix, macht nix! Du bist eben der Klon!“ Ich meine, richtig heißt es ja Clown, das weiß ich schon, aber Klon klingt kränklicher, blasser, ärmlicher, rheinischer, zirzensischer. „Macht nix“, hab ich dann immer gesagt, „der liebe Gott hat dich jetzt in diese Schlange gestellt, mach was draus, mach was draus.“ Ja, und das ging dann bei mir so weit, daß ich gar nicht mehr vorne stehen wollte. Das wär mir zu gesund vorgekommen. Ich hätte auch nichts draus machen können, unter uns gesagt, ich meine, poetisch, ja, poetisch, die Poeten haben dann immer so wunderbare, tröstende Bilder zur Hand. Die sagen einem sofort: „Aus dem Verlieren eine Musik machen“, und so was, nicht. Früher. Heute stehe ich schon mal `n bißchen früher auf, gehe schon mal schneller auf die Post, gucke gleich, welcher Schalter der günstigste ist.  
     Und wenn ich in so 'n Reisezentrum komme, gucke ich gleich das ganze Panorama ab, also wieviel, also die eine Schlange hat 15 Personen, die andere drei, aber ich meine, die mit drei geht viel langsamer als die mit 15, weil der eine will nach Australien, der andere will nur um die Ecke, nicht wahr. Da muß man sich die Leute hinterm Schalter ansehen, der arbeitet schnell, der arbeitet langsam. Das muß man alles sofort auf einen Blick, wenn man durch die Tür kommt, sehen. Da muß man sofort von links nach rechts - in einem Blick - die ganzen Schalter, das ganze Schalterpanorama sehen und stellt sich dann doch meistens in die falsche Schlange. Ich meine, ich kann Ihnen einen guten Tip geben - nie die Schlange wechseln, nie. Also, um´s mal mit einem uralten, etwas derben deutschen Spruch zu belegen, Sie kommen vom Regen, unter Umgehung der Traufe - direkt in die Scheiße! Das machen wir doch beim Stau auch immer, Autobahn, nicht wahr, ach, da fahr ich grad mal über die sechs Dörfer, weiß aber gar nicht, daß das zweite Dorf längst abgetragen worden ist. Da ist jetzt eine Riesenkiesgrube, da war mal, was weiß ich, da war mal Assmannsburg oder wie das hieß, nicht wahr. Niederassmannsburg war da mal, nicht wahr. Da ist jetzt nur noch eine Kiesgrube, da stecken schon 50.000 Autos drin, und von den Fahrern ist keiner mehr gesehen worden. Darüber gibt es auch ein Märchen von Hans Christian Andersen: Die Kiesgrube.
     Nein, nein, nein nie die Schlange wechseln, es hat keinen Sinn! Ich versuche, mich einfach heute mehr zu behaupten als früher. Neulich habe ich grade wieder für mich und meine Frau Gulasch, Bohnen und Tomaten eingekauft. Sie hatte gesagt: „Geh mal los - da ist ein freier Gemüsestand.“ Ich weiß gar nicht, was das heißt „Freier Gemüsestand“. Das ist auch so was. Open Air Gemüsestand. Ich weiß nur, was ein freier, fester Mitarbeiter ist. Das ist ein Beruf ohne Urlaubsgeld. Aber ich hab den Gemüsestand gefunden. Der war wirklich sehr gut, muß ich sagen. Also infolgedessen auch jede Menge Frauen davor und drumrum. Und die Reihenfolge war überhaupt gar nicht mehr auszumachen, so daß jetzt jeder von der Willkür des Verkäufers abhing, und alles guckte auch den Verkäufer suggestiv an, Sie kennen das ja sicherlich. Hallo, ich, hallo, hier, nicht wahr. Ich steh schon drei Nächte, hab zwei Klappstühle mitgebracht. Sie kennen das ja. Darf ich Ihnen meinen Urenkel vorstellen? Und auf einmal sprach er mich tatsächlich an. Ich war ganz überrascht, ich hatte mich schon auf zwei Tage mit Schlafsack eingerichtet. Und ich wollte grade sagen: „Drei Pfund Tomaten“, da zischte neben mir eine junge Frau los: „Ich glaub, ich war jetzt dran.“ Da hab ich sofort wieder die Flossen hängen lassen. Und ganz, ganz untertrieben zu dem Verkäufer gesagt: „Ist ok, ist ok. Macht nichts, Sie haben das alles hier bestens im Griff.“ Worauf die junge Frau, die ich gar nicht damit gemeint hatte, sofort schrie: „Ja, ich hab alles im Griff!“ Was wollen Sie da machen, was wollen Sie da machen? Da wird mir immer so leer im Bauch! Hach, denke ich dann manchmal, Vorletzter in der Schlange sein, dazu noch `n paarmal übersehen werden, war ja auch nicht schlecht damals. In der Kneipe, in der Kneipe manchmal ganz genauso. Da sitze ich ungelogen 25 Minuten, 25 Minuten - ich gucke immer extra auf die Uhr - und der Ober rast ewig an mir vorbei, ewig an mir vorbei. Früher. Heute gehe ich nach zehn Minuten. Tja, so ändern sich die Zeiten!


 
© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Meine Geschichten" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Die Zeichnungen stellte freundlicherweise Jürgen Pankarz zur Verfügung.
Redaktion: Frank Becker