Boogie-Woogie in Huppain

von Wolf Christian von Wedel Parlow

Paul Papenburg, D-Day
Boogie-Woogie in Huppain
 
Alphonse Cachet, in den Casinobunker des kleinen Marinestützpunkts Port-en-Bessin-Huppain abkommandierter Kriegsgefangener, wie stets in weißem Hemd, schwarzer Hose und schwarzer Fliege, stand an dem schmalen Sehschlitz. „C’est la fin“, preßte er zwischen den Zähnen hervor, laut genug, daß es die drei Marineoffiziere hören konnten, die hinter ihm an dem langen Tisch saßen und ihr Baguette nach französischer Sitte in den Milchkaffee tunkten.
„La fin de quoi?“, rief der smarte Leutnant, der erst kürzlich zu ihrer Einheit kommandiert worden war, noch sehr jung und unerfahren im Umgang mit der französischen Bedienung. Alphonse tat, als hätte er die Frage nicht gehört. Stattdessen deutete er mit der Hand nach draußen auf die graue See. „Le mur là bas, pouvez-vous le voir.“
Der Korvettenkapitän, Chef ihres kleinen Minensuchgeschwaders, sprang auf. „Lassen Sie mich bitte mal sehen!“ Alphonse machte ihm Platz. „Er hat Recht. Da kommt etwas auf uns zu. Wer hätte das gedacht? Sofort Alarm geben, Voswinkel!“
„Auf die Boote, Chef?“, fragte der Oberleutnant zurück.
 
„Zum Auslaufen ist es zu spät.“ Der Geschwaderchef kratzte sich unschlüssig am Kopf. „An die landgestützten Geschütze! Munition heranschaffen!“, entschied er schließlich.
Sieben weitere Marineoffiziere drängten in den Bunker. Sie waren von einer Nachbareinheit. Obwohl es schon Viertel nach sechs war, hatten sie noch nicht gefrühstückt. Für die ganze Kanalküste galt Einsatzbereitschaft ab fünf Uhr dreißig. Aber die Marine nahm sich immer wieder Sonderrechte heraus.
Die gespannte Unruhe im Bunker teilte sich den Neuankömmlingen mit. „Was ist los mit Alphonse?“, fragte der bärtige Kapitänleutnant. Alphonse tänzelte vor dem Sehschlitz, die Arme rythmisch auf und ab bewegend. Eigentlich wäre jetzt seine Aufgabe gewesen, Kaffee einzugießen und heiße Milch nachzuschütten. Aber er machte keine Anstalten, seiner Aufgabe nachzukommen.
Der plötzlich aufbrandende Geschützdonner schien ihm Recht zu geben. Sollen die Offiziere sich doch selbst bedienen, in dem Chaos, das gleich ausbrechen wird! Jetzt wurde auch von der Seeseite geschossen, mit schwerem Kaliber.
„Die Bunker hier sollen ja praktisch unzerstörbar sein. Ist doch so, nicht?“, wandte sich der Bärtige an seinen Ingenieur.
Der zuckte nur mit den Achseln. „So genau weiß man das nicht. Wenn wir heil bleiben, hat es gestimmt.“
Auf deutscher Seite schienen eher kleinere Kaliber im Einsatz. Alphonse sah das Mündungsfeuer. Sie feuerten steil in die Luft. „Des parachutistes là haut!“, schrie Alphonse. Ein Freudenschrei. Oder doch eher ein Warnruf, die Deutschen möchten bitte besser aufpassen, daß sie keinen Fallschirmjäger treffen bei ihrer Herumballerei? Er boxte sich mit der Rechten in die offene Linke.
Wenn nur das Casino keinen Treffer abbekam! So sicher war der Bunker nicht. Er wollte leben, wollte alles sehen, wollte sehen, wie die Deutschen überrannt wurden. Wie sie aus Frankreich hinausgeworfen wurden. Und wie er tanzen würde danach.
Was war das? Doch wohl keine Bluttropfen, die vom Himmel regneten! Alphonse nahm die Hände vors Gesicht, unterdrückte den Schrei. Verdammt, diese Deutschen, auf wehrlose Fallschirmjäger zu schießen!
 
Und dort links? „Hourra! Les Americains!“ Alphonse konnte nicht an sich halten. Er schrie es hinaus. Sie kamen mit Hunderten Landungsbooten. Wie die durch die Wellen furchten, phantastisch! Dort sprangen schon die ersten Männer ab, sammelten sich an der Steilküste, im toten Winkel, wo die deutschen Maschinengewehre sie nicht trafen. Doch wie viele trieben tot im Wasser! „Dieu soit gracieux à leur âme!“
 
Jetzt stiegen schon die ersten Gruppen die Steilküste hinauf. Ja, sie schaffen es! Alphonse ballte die Fäuste und begann wieder zu tanzen, schwang die Hüften, als sei er in Bayeux, im Jazzkeller „Cave 42“, der für die Deutschen verboten war.
„Was hat der Junge nur?“, näselte wieder der bärtige Kaleu. „Er sieht sich wohl schon Boogie-Woogie tanzen mit den amerikanischen Lazarettschwestern.“
Inmitten des Geschützdonners und leiser Schreie, die heraufdrangen, richteten sich aller Augen auf den tanzenden Alphonse.
Alphonse erstarrte. Aber die Blicke ließen erst von ihm ab, als dicht in der Nähe des Bunkers eine Granate detonierte.
 
 
 
© 2014 Wolf Christian von Wedel Parlow
Lektorat Karl Otto Mühl