Ein Stück Missions- und Kolonialgeschichte Ostafrikas

Hermann Schulz – „Die Nacht von Dar es Salaam“

von Regina Riepe / mit einer Erwiderung von Wolf Christian von Wedel Pralow

Die Nacht von Dar es Salaam
 
Der neue Roman von Hermann Schulz
erzählt ein Stück Missions- und Kolonialgeschichte in Ostafrika.
 
Beim Stichwort „Afrikamission“ sehen wir alte Bilder aus der Kolonialzeit vor uns, Postkarten von Missionsschulen neben der Kirche mit Glockenturm, von schwarzen Kindern, die zu den Klängen eines Harmoniums singen. „Heidenkinder bekehren“ mitten im afrikanischen Busch! Solche Bilder wurden zum Sammeln von Spenden in Deutschland unters Volk gebracht, noch bis in die sechziger Jahre hinein. Wie es den Missionaren in Afrika wirklich erging, kann man kaum ahnen. Einfach hatten sie es sicher nicht, vor allem die Männer und Frauen nicht, die von kleinen, wenig finanzkräftigen evangelischen Missionsgesellschaften nach Afrika geschickt wurden. Versehen mit einer praktischen Ausbildung und viel Frömmigkeit, die die unzureichende finanzielle Ausstattung ersetzen sollte, kamen sie dann beispielsweise vom niedersächsischen Dorf direkt nach Tansania. Kurz vor der Ausreise mußte noch geheiratet werden, oft eine ihnen kaum bekannte, fromme junge Frau, die wie sie der Enge und Armut des Dorflebens im Deutschland der zwanziger oder dreißiger Jahre entfliehen wollte.
 
Hermann Schulz hat in seinem Roman dem Leben eines solchen Missionars nachgespürt. Aus persönlichen Gründen, es ist für ihn gleichzeitig die Suche nach dem Lebensweg seines Vaters, der vor Beginn des zweiten Weltkriegs als Missionar in Tansania arbeitete. Gut erzählt wie alle seine Romane, sorgfältig recherchiert in Missionsarchiven, entwickelt der Autor eine ungewöhnliche Erzählperspektive. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs reist der Missionar Richard May mit seiner Familie zurück nach Deutschland. Erzählt wird der Tag vor der Abfahrt des Postschiffes in Dar es Salaam, damals war Tansania eine britische Kolonie. Der Mann, schwer krank, ist mit seiner Frau und den Kindern bei befreundeten Missionaren untergebracht. Es ist sein Abschied von Afrika, ein letzter Tag, um Bilanz zu ziehen. An seiner Seite ist Ndasenga, ein junger Schwarzer, der mit 12 Jahren als Boy bei ihm begann und immer mehr zu seinem Gefährten wurde – soweit das zwischen einem alten weißen Missionar und einem jungen schwarzen Mann damals überhaupt möglich war. Nun ist er für ihn da, stützt ihn und hört ihm zu.
 
Ndasenga fungiert als Ich-Erzähler des Romans. Die Idee, einen Afrikaner die Lebensgeschichte von Richard May erzählen zu lassen, bringt einen Perspektivwechsel in das Geschehen. Allerdings wirken einige Passagen unwirklich; selbst ein gebildeter junger Mann der damaligen Zeit wird kaum Bücher über Kolonialtheorien zur Behandlung der Schwarzen gelesen haben. Aber das nur nebenbei. Was zählt ist der Versuch, den Wandel in der Kolonie Ostafrika zu zeigen, die Aufbrüche am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Es ist eine Zeit, in der die Herrschaft der Weißen unaufhaltsam zu Ende ging und kluge, selbstbewußte Schwarze sich nicht mehr wie Kinder behandeln lassen wollten, denen Weiße die Welt erklären. Im Roman wurde Ndasenga nach der Abreise des Missionars Lehrer. Nun, da er pensioniert ist, schreibt er seine Erinnerungen an die Zeit mit Richard May auf, besonders die Erlebnisse jener letzen gemeinsamen Nacht in Dar es Salaam. Anlaß ist die Bitte der Tochter von Richard May, die - sozusagen als Alter Ego des Autors - auf der Suche nach dem Leben und den Motiven ihres Vaters nach Tansania gereist war.
 
Richard May kam als junger Missionar voller Energie und Hoffnung nach Tansania, getragen von dem Glauben an Gott und an die Richtigkeit der Gebote der christlichen (evangelischen) Kirche. Das alles wollte er weitergeben! Zurückgereist ist er als verzweifelter, kranker Mann. Vieles war in äußeren Schwierigkeiten begründet. Die Kolonialzeit gab weißen Abenteurern, bornierten englischen Kolonialherren und Geschäftemachern aller Nationen Raum, missioniert wurde von vielerlei konkurrierenden Missionsgesellschaften und Orden. Vor allem die Katholiken waren finanziell besser gestellt und konnten mit Schulen voller weißer Lehrer punkten. Und dann gab es ja noch den Islam. Wer da versuchte, wie die Afrikaner von seiner Hände Arbeit zu leben und sie zu respektieren, hatte schlechte Karten. Doch das eigentliche Scheitern des Missionars lag darin begründet, daß das klassische Gottesbild ihn nicht mehr trug. Zu schrecklich waren einige seiner Erfahrungen, sie ließen keine einfachen „frommen“ Erklärungen mehr gelten. Zu groß und ernsthaft waren die Anfragen aus der afrikanischen, traditionellen Gesellschaft, die ihre eigene Vorstellung von Gott und den Regeln eines guten Zusammenlebens hatte. So ist das Buch auch eine Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben und mit Gottesbildern. Und mit der alten Frage: Warum sind wir auf der Welt?
 
Der Roman ist ein Gewinn für alle, die sich für das Leben in Afrika zur Zeit von Mission und Kolonialzeit interessieren, für ein Stück der Geschichte, die uns mit Afrika verbindet. Im Guten wie im Bösen.
 
Regina Riepe / www.afrika-didact.de
 

Die Nacht von Dar es Salaam.
 
Eine Erwiderung auf Regina Riepes Besprechung des Romans von Hermann Schulz
 
Ein junger Mann, einziger Sohn auf einem kümmerlichen Bauernhof, verläßt eines Tages, ohne Abschied zu nehmen, seine Eltern, um anderswo sein Glück zu versuchen. Mit diesem Sprung aus der Enge der erwarteten Zukunft entrollt sich ein Drama, das sich in dieser oder ähnlicher Form immer wieder abspielen wird. Treibende Kräfte sind stets die Suche nach Glück, das nagende Gewissen und das Streben nach Bewährung. Ein Allerweltsgeschehen also, aber wenn sich ein einfühlsamer Erzähler der Geschichte annimmt, kann daraus große Literatur werden.
Josef Conrad hat das mit seinem Roman Lord Jim bewiesen. Jim ist der Erste Offizier auf der Patna, der nach einer Kollision mit einem unsichtbaren Wrack mit Kapitän, Zweitem Offizier und weiteren Besatzungsmitgliedern von dem vermeintlich sinkenden Schiff in das Rettungsboot springt und damit die an Deck noch schlafenden Mekkapilger dem erwarteten Untergang überläßt. Er verliert sein Patent, verdingt sich in ostasiatischen Hafenstädten als Hafenagent, immer darauf bedacht, nicht als der große Versager wiedererkannt zu werden, und verkriecht sich irgendwann in den malaiischen Busch, wo er zum Beschützer eines Eingeborenenstammes aufsteigt, aber schließlich von seiner Vergangenheit eingeholt wird, als das Dorf von einer Seeräuberbande bedroht wird. Den Bewohnern gelingt es, die Bande festzusetzen. Aber Jim setzt überraschend ihre Freilassung durch, nachdem er in dem Anführer, und der in ihm, einen Schicksalsverwandten erkannt hat, einer so miserabel wie der andere. Der befreundete Häuptlingssohn, der weiter unten am Fluß Wache hält, stirbt im Kugelhagel der abziehenden Seeräuber, vielleicht ihre Rache für das Scheitern des Raubzugs. Der Häuptling rast vor Verzweiflung über den Verlust des einzigen Sohnes. Jim hätte fliehen können – wie damals beim Sprung von dem vermeintlich sinkenden Schiff. Aber diesmal stellt er sich, den sicheren Tod vor Augen.
 
Die Nacht von Dar es Salaam von Hermann Schulz erzählt eine weniger dramatische, weniger abenteuerliche, dafür aber ergreifende Geschichte. Sie handelt von Richard May, dem erwähnten Bauernsohn, der seine Eltern ohne Abschied verlassen hat und nach Wochen der Unbehaustheit im Duisburg der 1920er Jahre zufällig in die Fänge einer rheinischen Missionsgesellschaft gerät, die ihm anbietet, ihn zum Missionar auszubilden und anschließend nach Tanganjika zu schicken. Anders als Conrad, der den Leser gern mit einer psychologischen Suada vom eigenen Denken abhält, sieht Schulz oder vielmehr sein Icherzähler Ndasenga, der schwarze Boy des deutschen Missionars, den Menschen nicht hinter die Stirn. Ndasenga fragt sich zwar oft, was seinen Herrn wohl zu dieser oder jener Handlung bewegt hat, aber er weiß keine Antworten. Bis zum Ende seines Berichts wird er sich nicht ganz klar, warum Richard nach Afrika gekommen ist, ob er nicht doch, statt zu missionieren, lieber Gold an sich gerafft hätte wie die anderen Weißen. Daß ihn Gott geschickt habe, wie Richard beschwört, kann er ihm nicht ganz glauben. Und auch der Leser kann es nicht ganz glauben. Entscheidend ist, nicht nur Ndasenga, auch der Leser kommt ins Grübeln. Das ist die Stärke des Romans, die Vermeidung fertiger Antworten zu dem großen Thema, was wohl die Weißen in Afrika suchen.
Man könnte meinen, daß Schulz diese den Leser fordernde Struktur seines Romans nur deswegen so gut gelingt, weil er einen Schwarzen, noch dazu einen nur durch die Schule Richard Mays gegangenen Dorfjungen, erzählen läßt, mag der auch zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Berichts bereits pensionierter Lehrer gewesen sein. Was verstehen denn Afrikaner von Psychologie? Sind sie überhaupt fähig zu abstraktem Denken? Natürlich nicht! Und weil ihnen diese Fähigkeit abgeht, können sie allenfalls Fragen stellen, aber keine Erklärungen liefern für menschliche Handlungen. Man könnte also schnell bei der Hand sein mit einer rassistischen Begründung, warum es Schulz so gut gelingt, die ausgetretenen Pfade langatmiger psychologischer Deutungen zu meiden. Aber Ndasenga als Erzähler einzusetzen war keine Krücke, sondern ein Glanzlicht der Erzählkunst, deren Stärke gerade darin liegt, daß sie den Leser zum Nachdenken über die ungelösten Fragen veranlaßt.
 
Deswegen zielt auch Regina Riebe in ihrer Besprechung am Kern des Buches vorbei, wenn sie Zweifel anmeldet, ob ein junger Mann schon damals „Bücher über Kolonialtheorien zur Behandlung der Schwarzen gelesen haben“ könne. Es sind berechtigte Zweifel. Aber als Ndasenga den Bericht niederschrieb, war er schon alt und hatte Zeit genug, sich intensiver mit der ihn umtreibenden Frage zu befassen, was die Weißen in Afrika suchten. Auch was die Weißen über den richtigen Umgang mit den Schwarzen dachten, gehörte natürlich zu diesem Thema.
Aber man würde den Roman gründlich mißverstehen, wenn er wie ein Kompendium über den Kolonialismus gelesen würde, als ein Stück Kolonialgeschichte, wie Regina Riepe das Buch klassifiziert. Der Roman handelt vielmehr von der Tragödie einer gescheiterten Bewährung. Bis zum bitteren Ende plagt Richard das Schuldgefühl gegenüber seinen Eltern. Mit der Mission will er Abbitte leisten. Und er leistet sie mit Bravour, wird ein geachteter Mann in der ihm zugewiesenen Region. Aber dann wird er an das Sterbebett von Mama Ntitihera gerufen und muß hier erleben, wie die Heidin seine Antworten auf die Frage, warum wir Menschen hier auf der Erde seien, Stück für Stück als angelernte Sprüche entlarvt. Er fühlt sich leer nach diesem Gespräch, das in vielem der Verhandlung Jims mit dem Anführer der Seeräuber bei Conrad entspricht. Richard kündigt der Missionsgesellschaft wenige Tage danach und macht mit einem irischen Missionar eine Handelsgesellschaft auf, die quer über das südliche Afrika Waren vertreibt. Die Lagerhalle, die Richard mit Ndasenga und weiteren Helfern errichtet hat, brennt samt den gestapelten Waren ab. Vermutlich war es Brandstiftung, die aber unaufgeklärt bleibt. Richard ist endgültig ruiniert und kehrt als sterbenskranker Mann mit seiner Familie nach Deutschland zurück.
 
Wolf Christian von Wedel Parlow
 
Hermann Schulz - Die Nacht von Dar es Salaam
Roman
© 2014 Bandes & Apsel, 196 S., Broschur - ISBN 9783955580643
19,90 €