Der alte Mann 4

von Erwin Grosche

Foto © Siegfried Baier / pixelio.de

Der alte Mann
4
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Er wollte zum Zoogeschäft Kanne am Le-Mans-Wall, um für seinen Hund neues Futter zu kaufen. Natürlich war der Bahnübergang Rosentor geschlossen. Immer, wenn er hier entlang ging, waren die Schranken unten und man mußte sich entscheiden, ob man darauf warten wollte, daß die Schranken sich wieder hoben oder die Unterführung benutzen. Der alte Mann schaute sich um. Eine Frau mit Kinderwagen zeigte ihrem Kind gerade den ersten vorbeirauschenden Zug. Er war kaum vorüber, alle Wartenden starrten hoffnungsvoll auf die Schranken, aber sie öffneten sich nicht. Das konnte dauern. „Ich habe hier Papa kennen gelernt“, flüsterte die Frau dem Kind zu. Noch hatte es Sinn in den Hades hinunter zu steigen, um danach geläutert am Liboriberg wieder aufzutauchen. Gegenüber standen fünf Autos und warteten ebenfalls auf das Öffnen der Schranken. Einige Fahrer waren aus ihren Pkws ausgestiegen und hatten sich am pilzförmigen Kiosk einen Kaffee geholt. Andere hatten eine Liege dabei und genossen in der Sonne die kleine Auszeit. Ein Audifahrer spielte mit einem Motorradfahrer Schach, ein Pärchen tanzte zu einem Walzer, der aus dem Radio eines Bullis dazu verführte. Inzwischen zuckelte der zweite Zug vorüber, und alle Wartenden winkten den Reisenden zu, aber auch nach dessen Durchfahrt öffnete sich nichts und niemand gab den Durchgang frei. Der alte Mann streichelte seinen Hund. Der zuckte immer zusammen, wenn ein Zug den Bahnübergang passierte. „Die Unterführung ist fast hundert Jahre alt“, sagte ein Rollstuhlfahrer zu ihm. „So sieht sie auch aus“, sagte der alte Mann. Sie lachten. In der engen Unterführung roch es nach Urin, Wasser tropfte von der Decke und gespenstische Bilder erinnerten an den Untergang der Welt. „Hier kann man schon was erleben“, sagte der Rollstuhlfahrer. „Kennen Sie die Bahnhofsuhr im Hauptbahnhof, die keine Zeiger hat?“ Der alte Mann nickte. Natürlich kannte er die Bahnhofuhr im Paderborner Hauptbahnhof, die ohne Zeiger den Bahnreisenden ermutigte, sich in ewiger Geduld zu fassen. Paderborn hatte viele dieser Stellen und Monumente, die zum Verweilen einluden und der Welt dieses eigene Paderborner Tempo aufdrückten. Auch die Bahnschranke am Rosentor gehörte dazu. Wo gab es denn in der zivilisierten Welt etwas, das so einen Einschnitt wagte inmitten der Geschäftigkeit der Welt? An diesem Übergang trafen sich Modernität und Meditation. Hier war der Ort, wo Ruhe herrschte und Glück entstand. Nach dem Vorbeirauschen des dritten Zuges öffneten sich wie von Zauberhand die Schranken. „Oh“, seufzten alle enttäuscht. Man hatte sich gerade aneinander gewöhnt. Man sprach schon Einladungen aus und umarmte sich spontan. Nun mußte man sich wieder trennen und seinen Alltag allein suchen und bewältigen. Der alte Mann nickte dem Rollstuhlfahrer zu. Sie würden sich wiedersehen. In Paderborn verliert man sich nicht aus den Augen.
 
 
© 2014 Erwin Grosche für die Musenblätter