Ein surrealistischer Alptraum

Richard Strauss´ „Salome“ in der Oper Bonn

von Peter Bilsing / Martin Freitag

Foto © Thilo Beu

Salome
Ein surrealistischer Alptraum
 
Eine begnadet Operninszenierung, die unter die Haut geht
 
Premiere in Bonn am 1.2.15
 
Wir dringen in die Träume der Menschen ein. Auf der ersten, der leichten Traumebene, entspricht eine Minute Traum einer Stunde des normalen Lebens. Auf der zweiten, der tieferen Traumebene, ist eine Stunde Traum eine Woche in Echtzeit. Und in der tiefsten, der letzten Traumebene, gibt es kein zurück mehr; sie dauert ein Leben. Aus den ersten beiden Ebenen wacht man wieder auf, wenn man im Traum stirbt oder sich umbringt; in der letzten verbleibt man unendlich, oder stirbt im Wahnsinn. (Christopher Nolan, INCEPTION, 2010)
 
Prima Laudatio:
ich habe selten eine so aufregende Inszenierung durchlebt, wie die Bonner SALOME des phänomenalen Regie-Teams Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka. Das war Musiktheater par excellence! Ich zitiere hier gerne einen alten Werbespruch aus der noch Schwarz-Weiß-Film-Ära: Spannung bis das Blut gefriert.
Hinzu kommt eine Besetzung, die praktisch keine Wünsche offen ließ. Dazu offeriert uns Orchesterleiter Stefan Blunier mit dem Beethoven Orchester einen geradezu göttlichen Richard Strauss - transparent, modern durchhörbar aber auch fulminant expressiv im Fortissimo; alles, ohne dabei zum Sängermörder zu werden. Ein 5-Sterne-Abend ohnegleichen, für den wir unseren raren OPERNFREUND-STERN verleihen.
 
Das große Problem einer glaubwürdigen Besetzung der Salome
Eigentlich braucht man Monsterstimmen, wie sie einst z.B. Rysanek, Nilsson, Caballé, Varnay, Jones hatten. Leider haben sich die antiken

Nicola Beller Carbone - Foto © Thilo Beu
Strauss-Fans daran gewöhnt, und viele machen diese zu ihrem Maßstab. Nicht wenige Sangespassgen sind von scheinbar wagnerscher Wucht und Wahn. Sie fallen durchaus in den gesundheitsgefährdenden Bereich für normale Sängerinnen, andererseits gilt es überwiegend ganz wunderbare leise Phrasen zu intonieren; teilweise muß es tönen wie gehaucht, als höre man einen kleinen verstört davon flatternden Schmetterling. Die im Original gerade 15 Jahre alte Salome sollte nicht nur so zerbrechlich aussehen, wie ein zarte Porzellanballerina, sondern muß auch überwiegend so singen. Können Sie sich die oben genannten „Monsterprimadonnen“ wirklich in dieser Rolle vorstellen? La Caballé als kleines verletzliches 15-jähriges Mädchen? Oder die wuchtige Nilsson-Walküre in so einer Rolle?
 
Nicola Beller Carbone ist Salome
Wir leben heute - was natürlich ein großer Irrglaube ist - in der Zeit des Musiktheaters. Vorne an der Rampe stehen ist heuer meistens out; auch ist GsD Oper nicht mehr „wenn die dicke Dame singt“. Auf der Opernbühne müssen glaubwürdige Geschichten erzählt werden, und dazu braucht es glaubwürdige Sangesdarsteller/innen. Daß es tatsächlich eine exemplarische Besetzung dieser Straussschen Salome gibt, bewies gestern Abend in der Bonner Oper Nicola Beller Carbone. Ich habe in gut 40 Jahren noch nie eine so glaubwürdige, geradezu frappierend unter die Haut gehende Interpretation erlebt. Richard Strauss würde wahrscheinlich im Komponistenhimmel jubilieren „Jaaa! Genauso habe ich mir diese Rolle vorgestellt!“. Carbone ist für mich eine Idealbesetzung; das Maß der Dinge was eine Künstlerin überhaupt in einer Opernpartie musiktheatermäßig leisten kann¸ so genial wie verstörend, so traumhaft wie traumatisch und so hinreißend wie erschreckend.
Mit der Hausbesetzung Mark Morouse (Jochanaan), Anjara I. Bartz (Herodias) und Roman Sadzik (Herodes) bot die Bonner Oper praktisch eine festspielreife Besetzung. Besonders erwähnenswert ist für mich Johannes Mertes, der kurzfristig für den erkrankten Tamas Tarjanyi einsprang. Mertes war als Narraboth eine echte Sensation; besser geht es nicht, textverständlicher und ausdrucksstärker kann man diese Partie einfach nicht bringen. Bravo! Bitte merken Sie sich diesen Namen.
 
Achtung: Warnung!
Liebe Opernfreunde, lesen Sie bitte jetzt nicht weiter, wenn Sie sich diese grandios spannende und im wahrsten Sinne des Wortes „atemberaubende“ Inszenierung noch anschauen wollen. Denn das wäre dann so, als wenn Ihnen jemand vor Beginn von Alfred Hitchcock Films PSYCHO das Ende verraten würde. Sie wären dann nicht nur um einen genialen Theatercoup, sondern auch um ein geniales alternatives Opern-Finale betrogen. Und diesem „Verrat“, den einst die Bildzeitung in den frühen 60ern beim Straßenfeger „Das Halstuch“ von Francis Durbridge beging, indem sie vor der letzten Folge den Mörder verriet, möchte ich mich nicht anschließen.
Besonderes Lob gilt dieser kongenialen Inszenierung von Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka, denn ich halte dieses Regieteam, auch nach der sagenhaften TOSCA in Braunschweig, für eine Option auf die Zukunft des Musiktheaters in seiner aufregendsten und intelligentesten Form. Man muß natürlich hinschauen und sich mit ihrer Interpretation auseinandersetzen, denn ihre Arbeiten sind keine delektierliche Berieselung von althergebrachtem Opernkäse, kein Wiederkauen bekannter Szenarien, sondern ausgesprochen feinsinnig durchdachte Inszenierungskonzepte, die jeden Zuschauer regelrecht in den Bann ziehen. Es klingt vielleicht abgedroschen, aber das ist handwerklich perfekte Inszenierungskunst von höchster Qualität, wie sie u.a. ein Alfred Hitchcock auf der Film-Ebene präsentiert hat. Wer unter Werktreue Museumsbauten antiker Wüstenschlösser, steinerner Paläste aus Pappmaschee oder museale Ali-Baba-Opernfolklore erwartet, sollte die Produktion unbedingt meiden.
 

Foto © Thilo Beu

Das Regieteam (auch für Bühne und Kostüme verantwortlich) läßt den Zuschauer in das scheinbar reale Ambiente eines Art-Deco Kaffeehauses der 20er Jahre blicken; hier könnte Strauss getafelt haben neben Siegmund Freud; schwarz-weiße Schachbrettmuster beherrschen den Boden und die Seitenwand. Doch irgend etwas stimmt nicht in dieser pseudorealen Welt, denn Boden und Ausstattung spiegeln sich - die gleichen realen Tische und Stühle kleben waagerecht an der Seitenwand. Ein surreales Bild, in dem trotz realer Requisiten letztlich nichts real ist. 
Schnell wird dem Zuschauer klar: wir befinden uns in einem Traum - einem Alptraum in dessen bösem Verlauf die Wände Risse bekommen und die Elemente bröckelnd herabfallen. Es blutet im Finale aus dem Kronleuchter auf die schneeweiße Kindergeburtstagstorte, bevor den Protagonisten am letzten verbliebenen Kaffeetisch ihre eigenen Köpfe auf dem Silbertablett präsentiert werden. Der finale Satz „Man töte dieses Weib!“ ist nur noch Kolportage, geht ins Leere, denn sie sind eigentlich alle schon tot. Da sitzen sie, die Tiere in Menschgestalt: der Tetrarch, der seine Stieftochter schon als kleines Kind mißbrauchte, die von Drogen und Alkohol degenerierte gleichgültige Mutter, die alles zuließ und eben die völlig dem Wahnsinn verfallene Salome - alle sind nur noch - oder schon ? - lebende Leichen.
 
Kleiner historischer Exkurs zum Schleiertanz
Problematischstes Element jeder SALOME und gleichzeitig Dreh- und Angelpunkt jeder Inszenierungs-Glaubwürdigkeit ist der Schleiertanz. Teilweise recht voluminöse, lautstarke Sängerinnen konnten ehemals natürlich nicht tanzen (wenn sie es versuchten, geriet es zur Lachnummer) und so wurden häufig echte Tänzerinnen, meist Balletteusen, als Doubles verwendet. Das wirkte meist ungewollt lächerlich, denn a) hatten die Doubles kaum Ähnlichkeit mit dem Original und b) kam der Tanz natürlich unter dem Konsens der Zensur meist ausgesprochen trocken und prüde rüber. Letzten Endes ist dieser „Tanz“ ja nichts anderes als eine gewagte Striptease-Nummer zu einem brüchig Straussschen La Valse und macht nur bildhaften Sinn, würde sich am Ende tatsächlich die Salome entblättert den gierigen geilen Gelüsten ihres Stief-Vaters und des Hofstaats zeigen. Rudimentäre Nacktheit auf einer Opernbühne mutete man den Zuschauern erst ab den 80er Jahren zu. Zu berichten ist über Merkwürdigkeiten. So ließ ein bekannter Regisseur z.B. seine Salome während des Tanzes die sieben Schleier an-, statt ablegen (fand die Kritik damals sehr originell!) während ein anderer sieben strippende Jünglinge auf sieben Kamelen präsentierte...


Foto © Thilo Beu
 
Unser Bonner Regie-Dreamteam löst die Geschichte so brillant wie überzeugend: Es erscheint ein sogenannter professioneller Eintänzer für die ersten Runden der „Walzertakte“; in dessen Verlauf Salome durch eine weitere Profitänzerin ersetzt wird; beide bleiben in Bewegung, auch wenn die Musik schon längst nicht mehr walzert, während Salome in ihre frühe Kindheit zurückfällt, wo ihr schließlich sogar eine reale Geburtstagstorte von den Eltern präsentiert wird. Schließlich eskaliert dieser Alptraum quasi zu einem filmischen Tarantino-Gemetzel, in dessen Verlauf das Kind alle Anwesenden dahinmeuchelt. Mehr möchte ich nicht verraten...
Nur noch eines für aufgeschlossene Opernbesucher mit Nerven: Bitte schnell nach Bonn fahren, denn diese sensationelle Produktion wird sich zu einem Kulttheaterereignis entwickeln. Besser und aufregender kann man Musiktheater nicht inszenieren.
 

Foto © Thilo Beu

Persönliches Post Scriptum
Selbst der abgebrühte Film- und Opernkritiker war am Ende so erschlagen, daß ihm in den ersten Minuten die Hände fast gefroren und ihm auch der folgende berechtigte Beifall schwer fiel. Diese Wahnsinnproduktion bereitete mir noch eine schlaflose Nacht. Es wird Ihnen ähnlich gehen...
 
Dank für die fabelhaften aussagekräftigen Bilder an Thilo Beu
Weitere Informationen: theater-bonn.de/


Eine Übernahme mit freundlicher Erlaubnis aus Der Opernfreund.


Redaktion: Frank Becker

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Unser Korrespondent Martin Freitag beurteilt die Bonner Salome so:


Familiendrama mit Gesellschaftsumbruch

SALOME

Premiere in Bonn am 1.2.2015

Beim Aufgehen des Vorhangs könnte man glatt ein „Aaah!“ erwarten, denn Alexandra Szemerèdy und Magdolna Parditka, die für die neue Bonner „Salome“ für Regie und Ausstattung in Personalunion zuständig sind, haben edelstes Art Deco in Schwarz-Weiß auf die Bühne gezaubert. Erinnerungen an Kaffeehäuser und Restaurants in Budapest werden da wach. Also kein antiker jüdischer Hof, sondern eine Gesellschaft vor dem Umbruch; aus Soldaten werden Ober, die Juden, unter ihnen Sigmund Freud, bilden eine intellektuelle Kaffeehausexklave, ansonsten frühe präfaschistische Uniformen, die Damen in Zwanziger und Dreißiger Jahren mit schwarzem Bubikopf. Manches Detail des Librettos wirkt ein bißchen gewaltsam verbogen, doch wer sagt, daß Oper eine logische Kunstform ist? Die beiden Regisseurinnen legen vor allem Wert auf die Psychologie der herrschenden Kleinfamilie, freilich schießen sie für mein Gefühl mit einer überdeutlichen Spielastik über das Ziel hinaus und erschlagen die eigentliche Stringenz mit einer unnötigen Anzahl Requisiten - überdeutliche Symbolik steht da nicht immer im Kosten-Sinn-Effekt, so die riesige Sanduhr oder die Feuerspiele, die zudem technische Schwierigkeiten bedeuten, die in der Premiere auch prompt nicht funktionieren und den Auftritt eines Feuerwehrmannes bedingen. Eine weise Beschränkung auf Wesentliches wäre da von Vorteil, eine Tendenz, die mir schon bei vorigen Arbeiten des Regieduos ins Auge stach. Interessant dagegen die Idee Jochanaan als heruntergekommenen Warner desselben Systems zu zeigen, das noch an der Macht ist. Folgerichtig das Finale, in dem Salome, Herodias und Herodes vor ihren eigenen abgeschlagenen Köpfen am Tisch sitzen, schöner wäre der Einfall, wie so vieles andere, wenn er nicht so absehbar serviert würde. Ein ganz zentraler Punkt natürlich ist Salomes Tanz: die Protagonistin aufgesplittet in die eigentliche Darstellerin, die sehr sensibel das mißbrauchte, traumatisierte Kind darstellt, und das Tanzpaar, das wie Fred Astaire und Ginger Rogers einen Schautanz auf das Parkett legen. Obwohl die Frage bleibt, ob so ein harmloses Tänzchen Herodes Gelüste zufriedenstellt oder so einen übermächtigen Preis fordert?

Musikalisch, man erinnert sich immer noch an die „Elektra“, enttäuschen Stefan Blunier und das Beethovenorchester Bonn nicht, da ziehen Chef und Kollektiv an einem Seil. Strauss` Partitur wird sowohl auf ihre süffigen Seiten abgeklopft, wie auf die grellen Modernismen, die seinerzeit so viel  Aufsehen und Skandal erregt haben. Manchmal rauscht das Klangbild jedoch auch über die Sänger hinweg, da wäre etwas Rücknahme von Vorteil. Doch das Ensemble ist durch die Bank weg gut aufgestellt: mit Nicola Beller Carbone konnte man eine exzellente Darstellerin für die Titelpartie gewinnen, der man die attraktive Mädchenhaftigkeit der Prinzessin abnahm, gesanglich ebenfalls eine sehr intelligente Vorstellung, die den Sopran nie ins Forcieren schickte, so wurden vor allem die lyrischen, zarten Bögen überzeugend filigran und berührend gesponnen werden. Mit Anjara I. Bartz eine Mutter ohne hochdramatischen Impetus an der Seite, die die Verzweiflung der Figur menschlich sehr auf den Punkt brachte. Roman Sadnik dazu als greller Herodes, der sich aus Ausdrucksmöglichkeit nicht scheute, die Notenlinie zu verlassen, ebenfalls sehr effektvoll. Mark Morouse sang mit üppigem Bariton einen überzeugenden Jochanaan. Besonders Johannes Mertes wußte mit schönen Tenorklang als Einspringer einen trefflichen Narraboth zu singen.

Die Qualität des Ensembles zeigte sich jedoch auch gerade in den vielen wichtigen „Nebenrollen“, die das Werk fordert: hervorragend das Judenquintett mit Martin Koch, Christian Georg, Taras Ivaniv, Ali Magomedov und Johannes Marx. Rolf Broman und Martin Tzonev als Soldaten, Priit Vollmer und Christian Specht als Nazarener warteten mit schönen Stimmen und sicheren Einsätzen auf. Etwas mulschig Lisa Wedekinds Mezzo-Page. Mit knappen Einsätzen Algis Lunskis und Martina Kellermann als Cappadocier und Sklave. Nathalie Brandes und Olaf Reinecke waren für den schönen Tanz in der Choreographie des Tänzers zuständig.

Insgesamt ein Opernabend auf sehr hohem musikalischem Niveau, bei der Regie Licht und Schatten, was auch einige Buhs wie Bravos provozierte. Eine „Salome“ über deren Einzelheiten noch etwas länger nachgedacht werden kann.

Martin Freitag

Redaktion: Frank Becker