Der flüchtige Augenblick

Alexander Kluge / Stefan Moses – „Le Moment fugitif“

von Steffi Engler

Der flüchtige Augenblick
(Le moment fugitif)
 
Schriftsteller und Fotografen haben eins gemeinsam: den flüchtigen Augenblick festzuhalten, ihn in Wort oder Bild zu bannen. Kommt beides zusammen, und sind sowohl Autor als auch Fotograf von Rang, können sich Geschichten und Geschichte ergeben. So geschehen bei dem Projekt unter dem Namen „Le moment fugitif“ für das Alexander Kluge 33 Essays und kürzere Texte zu Bildserien von Stefan Moses, eines der besten Fotografen und Chronisten unserer Zeit geschrieben hat. Gesellschaftsbeobachter und –kritiker beide, von höherer Warte, notabene. Zwischen 19961 und 1997 sind die schwarz-weißen Fotografien entstanden, die Stefan Moses für diese deutsche Chronik der besonderen Art ausgewählt hat. Politische Größen der Bundesrepublik in Portraits, stillen oder bewegten Bildern hat Stefan Moses festgehalten, Menschen und Momente der deutschen Wiedervereinigung, Bürger, Literaten, Philosophen.
 
Aus dem Verlagstext zum Buch: „Die Kombination dieses Buches ist ungewöhnlich und verdankt sich einem Zufall: Stefan Moses und Alexander Kluge sind Nachbarn. Ihre Begegnungen waren sporadischer Natur, bis sie merkten, daß ein gemeinsames Thema sie beschäftigt: Welche Momente für sie besonders sprechend sind – für den Fotografen einerseits und den Autor und Filmer andererseits. (…)Moses denkt seit je in Serien und gestaltet seine Motive gerne als Triptychon. Diese Sequenzen hat Kluge als Inspirationsquelle zu eigenen Geschichten aufgenommen, die teils thematisch von den Bildern ausgehen, andernteils den Evokationen folgen, die deren Umkreis entstammen. (…)Entstanden sind so 33 Texte, die in einem changierenden Verhältnis von Koinzidenz und Inkongruenz zu Moses’ Fotos stehen. Kluge erzählt darin von Menschen in politischen und privaten Umbruchsituationen, wo der Überblick schwindet und das große Improvisieren beginnt: SED-Kader in den Tagen der «Wende», die sich plötzlich ohne Führung in einem neuen Koordinatensystem der Kräfte wiederfinden; Stasi-Leute, die unschlüssig schwankend zwischen den Optionen Untergrund und Anpassung stehen; Gregor Gysi, der nach seiner Wahl zum PDS-Vorsitzenden sich nachts im verwaisten Büro des einstigen SED-Vorsitzenden wiederfindet und keine Ahnung hat, mit welchen Entscheidungsträgern ihn das Bataillon blinkender Telefone auf dem Schreibtisch verbinden könnte.“
 

   Lehrlinge Borna 1990 - Foto © Stefan Moses  - aus dem Buch „Le Moment fugitif“



   Kaufhaus Magnet 1990 - Foto © Stefan Moses  - aus dem Buch „Le Moment fugitif“

Mehr noch von den Bildern als von den beigegebenen Texten geht logischerweise unmittelbar die erste, packende Faszination aus. Man sieht nicht nur Fotos von Gesichtern und Situationen, man sieht tatsächlich in die Gesichter, erlebt sie Situationen, in denen sie gemacht wurden, hautnah. Dann Alexander Kluges Texte, geeignet zu verstehen, was man da sieht. Lektüre zum Begreifen von Geschichte und Gesellschaft, die nicht in diesem brillanten Buch verharren, sondern unbedingt zur Schullektüre der Oberstufe gemacht werden sollte, Grenzgänge zwischen Philosophie und Gesellschaftskunde. Gemeinsam sind diese beiden Elemente, wenn auch leichtfüßig, so doch Kopfkino von Gewicht.
Moses zeigt einige der bedeutenden Kanzler der Bundesrepublik Deutschland in intimen und emotionalen Momenten, Politiker, die bis heute den Charakter des Staates, in dem wir leben weiterprägen: Konrad Adenauer mit Ludwig Erhard, die großen SPD-Männer Willy Brandt und Helmut Schmidt. Schmidts eindringliches Portrait und die Studie Erhard/Adenauer habe ich als Beispiele ausgesucht.
 

  Ludwig Erhard, Konrad Adenauer 1961 - Foto © Stefan Moses  - aus dem Buch „Le Moment fugitif“



  Helmut Schmidt 1980 - Foto © Stefan Moses  - aus dem Buch „Le Moment fugitif“

Er zeigt auch die, die den „anderen“ deutschen Staat auf ihren Schultern getragen haben und zum Teil die Verlierer der Einheit wurden, weil ihre Arbeitplätze „abgewickelt wurde. Die Bilder der Lehrlinge im Braunkohlewerk Borna auf Seite 26/27 und vom Kaufhaus „Magnet“, Seite 37/38 (1990) haben eine eindringliche Sprache. Und wir sehen die, welche aus dem Scheitern der DDR als Wendehälse politischen Gewinn gezogen haben, wie den charmanten Dampfplauderer Gregor Gysi neben dem im Staub der Geschichte versunkenen Hans Modrow. Auch Denker wie Theodor W. Adorno, Ingeborg Bachmann, Hans Werner Henze, Ernst Jünger und Friederike Mayröcker begegnen uns in gleicher Größe.
Wie schön, daß auch die Satire Platz findet – nicht genug kann ich mir die Fotos von der Schlacht am Kalten Büffet 1963 auf den Seiten 111-113 anschauen. Als Begleiter immer dabei: Alexander Kluges brillante Texte. Beide haben den „moment fugitif“ für die Halbwertzeit eines erlesenen Buches gerinnen lassen.


Die Schlacht am Kalten Büffet 1963 - Foto © Stefan Moses  - aus dem Buch „Le Moment fugitif“

Alexander Kluge / Stefan Moses – „Le Moment fugitif“
© 2014 Nimbus Verlag / Stefan Moses / Alexander Kluge
128 Seiten, 85 Illustrationen, 20 x 28 cm, bedrucktes Leinen - ISBN 978-3-03850-009-4
Der Band enthält zudem zwei Beigaben von Friederike Mayröcker.
39,- €  /  CHF 48,00
 
Weitere Informationen:  www.nimbusbooks.ch