Logik

Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone

von Frank Becker

Konstantin Shklyar - Foto © Christoph Sebastian

Logik
 
Supergute Tage
oder
Die sonderbare Welt des Christopher Boone

nach dem Roman von Mark Haddon
Bühnenfassung von Simon Stephens

Premiere in Wuppertal am 6. Februar 2015 um 19.30 Uhr
 
Regie/Bühne: Elias Perrig - Kostüme: Sara Kittelmann - Dramaturgie: Cordula Fink - Fotos: Christoph Sebastian
Mit: Konstantin Shklyar (Christopher Boone) - Julia Reznik (Siobhan) - Stefan Walz (Ed Boone) - Tinka Fürst (Mrs. Shears, No.44, Mrs. Gascoyne u.a.) - Thomas Braus (Polizist, Roger Shears u.a.) - Philippine Pachl (Judy Boone) - Miko Greza (Mrs. Alexander, Rev. Peters u.a.) - Daniel F. Kamen (Polizist, Zugschaffner u.a.)
 
Wellington ist tot. Er liegt auf dem Rasen und eine Mistgabel ragt aus seinem Körper. Wellington ist der Hund der Nachbarin Mr. Shears (Tinka Fürst). Christopher Boone (Konstantin Shklyar) hat ihn gemocht und ausgerechnet er findet das tote Tier, in dem er ein Mit-Lebewesen sieht. Christopher ist fünfzehn Jahre, drei Monate und zwei Tage alt. Er kennt alle Länder und deren Hauptstädte und sämtliche Primzahlen bis 7507. In Mathematik ist er nahezu genial. Er mag Puzzles und Kekse, aber nicht die Farben Gelb und Braun. In seiner eng begrenzten Welt, in der er nicht allein sein darf, lebt er mit seinem Vater Ed (Stefan Walz) zusammen und besucht die Schule, in der Siobhan (Julia Reznik) seine Vertrauenslehrerin ist. Unordnung, Überraschungen, fremde Menschen und Eindrücke und vor allem Berührungen versetzen ihn in Angst, ja Panik - Christopher leidet am Asperger-Syndrom, einer leichten Form von Autismus. Komplizierte Stimmungslagen und widersprüchliche Gefühle seiner Außenwelt kann er nicht verstehen, Blicken nicht standhalten, Lügen nicht akzeptieren, Dank ist ihm fremd. Christophers Leben, Fühlen und Denken folgt einer eigenen bestechenden Logik, die nicht in Korrespondenz zu der Welt um ihn herum steht.
Gegen den Willen seines Vaters, der weiß, warum er das hintertreibt, beginnt Christopher durch die Befragung von Fremden mit Nachforschungen über den Hundemord. Er verläßt „seine“ Welt und begibt sich in das Chaos fremder Informationen, fremder Menschen, ein Abenteuer, das ihn in einer alle seine Kräfte fordernden Fahrt mit der Bahn nach London, zu seiner tot geglaubten Mutter (Philippine Pachl) und wieder zurück nach Hause bringt. Durch seine Tagebuch-Aufzeichnungen, aus denen Julia Reznik quasi als alter ego liest, sehen wir seine nüchternen Beobachtungen und die Konfusion unserer scheinbar geordneten Welt mit Christophers Augen.


v.l.: Greza, Shklyar, Braus, Kamen - Foto © Christoph Sebastian
 
Soweit zum Stück, das am vergangenen Freitagabend im Wuppertaler „Theater am Engelsgarten“ seine Premiere hatte – nein: feiern konnte.
Mit dem jüngsten Ensemblemitglied des Theaters, Konstantin Shklyar, der nach der Schauspielschule hier seine erste große Rolle hat, bekam die literarische Figur des Christopher Boone Gestalt und Gesicht. In seiner Textinterpretation, Mimik und Körpersprache bis in kleinste Nuancen brillant (Hand-, Körper- und Kopfhaltung, die Bewegung nur eines Fingers, Sprachansätze, Schutzverhalten etc.) macht Shklyar es dem Zuschauer möglich, sozusagen in Christopher zu schlüpfen, er zu sein, die Begrenzung des Autisten, seine Verletzlichkeit und seine seelischen Defizite körperlich und seelisch zu spüren. Der Junge denkt und handelt zielgerichtet in eigener, unbeirrbarer Logik. Emotionen wie Liebe, Zärtlichkeit, Freude oder Haß sind ihm fremd. Eine gewaltige Leistung des jungen Schauspielers in seiner Darstellung und der Bewältigung des unerhört komplexen, umfangreichen Textes, die man wie schon beim Schlußapplaus jetzt auch hier mit einem überzeugten, tief empfundenen „Bravo!“ honorieren muß.
So brillant auch das übrige Ensemble um ihn herum sich in vielen kleinen und größeren Rollen, oft mehrfach besetzt, zeigte, Konstantin Shklyars Leistung ließ alles um sich herum zu notwendigem, aber marginalem Beiwerk werden. Ihm gehörte über zwei Stunden (ohne Pause, eine kluge Entscheidung) angespannte Aufmerksamkeit. Einzig Stefan Walz hatte als Ed Boone in dessen verzweifelten oder wuchtigen Mono- und Dialogen vergleichbare Präsenz, und Miko Greza berührte differenziert in der kleinen Rolle der einfühlsamen Mrs. Alexander.
 
Elias Perrig hat das Stück als Erzählung in Einzelbildern, gelegentlich mit viel Humor inszeniert, verzichtet auf Kulissen und Ausstattung, läßt alles im kahlen schwarzen Bühnenraum stattfinden, der den Charme einer (sehr alten) Turnhalle verströmt und kaum Orientierungspunkte als die der Gesichter und Bewegungen der Darsteller bietet. Über den Boden ist ein geometrisch nicht logisch erscheinendes Gitternetz aus fluoreszierenden strengen Geraden gezogen, in deren mathematischer Mitte Christopher/Shklyar in einem dunklen Kreis von vielleicht einem Meter Durchmesser agiert. Der steht für seine enge seelische Welt, und er wird ihn nur in extremen Momenten und Situationen verlassen. Die Wahrheiten, die Christopher im Lauf der zwei Stunden erfährt, die ihn verwirrenden Einflüsse und Wege aus seinem Kreis heraus, die sein Verhalten spürbar verändern, ihn hoffnungsvoll fordernd  fast bis ans Publikum herantreten lassen: „Kann ich jetzt alles?!“, die „Reparaturen“ in seinem Seelenleben und seiner sozialen Umgebung, die ihm scheinbar endlich einen Hauch von Dankbarkeit entlocken, machen Hoffnung - die vom Schlußtableau brutal zerrissen wird.
Ganz feines, intensives Theater.


v.l.: Walz Shklyar, Reznik - Foto © Christoph Sebastian
 
Weitere Informationen und Termine:  www.wuppertaler-buehnen.de