Zum Jahresende

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl Foto © Frank Becker
Zum Jahresende

D
en vorletzten Tag des Jahres verbringe ich im Wasser, aus dem ich und alle anderen bekanntlich herausgekommen sind. Es ist heutzutage alles moderner als damals, nämlich im Schwimmbad, und es sind, vielleicht auch wegen dem Jahresende, sehr viele Lebewesen, die da herum wimmeln. Wir sind heute allerdings zivilisiert und legen keine Eier mehr. Durch die Glaswände des Schwimmbades schaut dämmernd die grau winterliche Welt.

Zuerst mache ich einen Durchgang in der Sauna. Hier war immer schon ein Altherrenclub, lauter Grauköpfe, wie sie oft vormittags auch im Getriebe der City überwiegen. Die hier sind fast alle gutsituiert, häufig goldkettchengeschmückt, fast alle strahlen sie Selbstbewußtsein und Kompetenz aus, vielfach Geschäftsleute. Voriges Jahr waren sie endlich mal mit ihrer Frau in Sydney und Hongkong, wollten sie schon immer, fragt sich nur, ob man bei den paar Stunden Aufenthalt auch Neuseeland erwähnen kann.
Das braune Holz schimmert, ab und zu zischt ein Aufguß. Die behaglichen alten Männer sitzen links und rechts neben mir. Der hat von seinem Sohn einen Kommunikator geschenkt bekommen, damit kann man alles, wirklich alles. Der  andere, mit dem schönen gewellten Silberhaar, hat null Ahnung, sagt er, aber jetzt hat er einen PC, er kommt jedoch damit nicht zurecht. Ein paar Megabyte mehr brauchte er schon, sagt man ihm, und wenn er das eine da nicht schafft, muß er nur auf „Help“ klicken.
Ja, aber wo ist Help?
Na, aber! Wozu dann ein PC, wenn man nichts lernen will? Er käme mit den Moorhühnern aber zurecht, lautet die Antwort, und um die Spiele sei es ihm ja gegangen. Also, die Moorhühner habe er schließlich aufrufen und dam Schluß wegbringen können. Ist ja doch schön...
Hier fühlen sich alle sicher, darum kommen sie so gern.

Später gehe ich hinunter ins Hallenbad. Viele kenne ich, die herumschwimmen. Im Wasser suche ich manchmal, welcher Kopf zu dem vor mir strampelnden Körper gehört. Im Lauf der Jahre erfährt man auch ihre Schicksale, ihre Operationen, ihren Ehe- oder Familienzustand. Viele kommen täglich, trinken danach ein Bier. Auch sie fühlen sich hier sicher.
Ich sitze dann auf der Bank am Beckenrand, um das gleißende winterliche Sonnenlicht aufzunehmen. Man bildet dadurch irgend ein wichtiges Vitamin, habe ich gelesen.
Ich sehe Wolfgang heran schwimmen, schlank, noch muskulös, frisches Gesicht, glitzernde, hellblaue Augen. Er ist Siebenundachtzig, treibt Sport, lebt allein, geht im Gasthaus essen. Unter der Dusche hat er mir einmal erzählt, daß bei weitem nicht alles leicht war und glatt verlaufen ist. Eine Freundin scheint er nicht zu haben.
Seine Bahn wird geschnitten von Friedrich, der wesentlich älter ist. Der erzählt mir oft, daß er als einfacher Unteroffizier eine ganze Panzerkompanie von Leningrad nach Hause geführt hat, weil alle Offiziere gefallen waren. Es gefällt ihm nicht, daß er jetzt schlecht sieht und ihm oft schwindlig wird. Er hat mich gefragt, ob es richtig sei, wenn man irgend was einnähme, Schluß mache. Am Ende hat er aber gelacht und gesagt, so was mache man natürlich nicht.
Jetzt ist Wolfgang auf gleicher Höhe mit mir. Mit seinen alten Augen hat er mich erkannt und nickt mir zu. Er gleitet ohne sichtbare Anstrengung vorwärts, zeigt, wie wohl er sich im Wasser fühlt. Sonnenflecken tanzen um ihn, hellgrün scheint das Wasser, Wochenendstimmung. Er sieht mich bedeutungsvoll an und ruft: „Uns geht es ja doch gut.“
"Du hast es genau getroffen", sage ich.
 

© Karl Otto Mühl 2003 - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007