Als US-Chronist im deutschen Trümmerland

Melvin J. Lasky - „Und alles war still / Deutsches Tagebuch 1945“

von Jürgen Koller

Als US-Chronist
im deutschen Trümmerland
 
Hoffnung auf die Zukunft -
Melvin J. Laskys „Deutsches Tagebuch 1945“
 
War der 8. Mai 1945, der Tag der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs, für die Deutschen die „Stunde Null“ oder ein 'vae victis!' - 'wehe den Besiegten' als Beginn absoluter Rechtslosigkeit und dem Ausgeliefertsein der Sieger oder war dieses Datum auch ein „Tag der Befreiung“, Befreiung von der Nazi-Diktatur, wie es Bundespräsident Richard von Weizsäcker anläßlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes in seiner berühmten Rede im Jahre 1985 formuliert hatte?
Der 25-jährige US-Oberleutnant Melvin J. Lasky hat als Mitglied der Historischen Abteilung der 7. US-Armee Mitläufer, Nazis, KZ-Überlebende, Widerstandskämpfer, Kriegsgefangene und Ausgebombte, aber auch seine Kameraden in den Monaten und Wochen vor dem Kriegsende und auch nach dem historischen Datum vom Monat Mai 1945 befragt. Diese Gespräche hat er in seinem Tagebuch festgehalten und zu einem lebendigen Erlebnisbericht eindrucksvoller Episoden und Bildsequenzen zusammengefügt.
Laskys eigentliche militärische Profession bestand aber darin, daß er als studierter Historiker mithelfen sollte, Materialien über den Vormarsch der 7. US-Armee von der Landung in der Normandie bis zum Kriegsende für eine Chronik zu sammeln. Daß die sachlichen, der Wahrheit entsprechenden Berichte, die die Männer der historischen Abteilung und eben auch Lasky über den Kriegsverlauf verfaßt hatten, von den Vorgesetzten geschönt wurden, konnte der junge Offizier noch verkraften. Dagegen ließen sich die Nahaufnahmen von den zerstörten Landschaften im Elsass und in Lothringen mit all den Grausamkeiten des Krieges - Lasky war seit Februar '45 bei der Truppe - nicht in einer militäroffiziellen Kriegschronik dokumentieren. Fassungslos erlebte er die Verwüstungen der französischen Ostprovinzen, sah dann später voller Schmerz die chaotischen Trümmerfelder und das menschliche Elend der süddeutschen Großstädte, aber auch der Städte Kassel, Braunschweig oder der ehemaligen Reichshauptstadt Berlin. Er begann sich die Frage zu stellen, ob diese totale Zerstörung des Feindeslandes wirklich von Nöten gewesen war, um Nazi-Deutschland zu besiegen?
 
Melvin J. Lasky, 1920 in New York als Sohn jüdisch-polnischer Einwanderer geboren, wuchs in einem Elternhaus auf, das der europäischen und eben auch der deutschen Kultur in Achtung verbunden war. Als Student und später als Journalist hatte er linke, trotzkistische, aber strikt antistalinistische Positionen vertreten. Als Angehöriger der siegreichen US-Army sah er sich zugleich als einen Amerikaner, der danach fragte, wie es kommen konnte, daß ein Volk mit so vielfältigen Kulturtraditionen wie das deutsche sich solcher Verbrechen schuldig machen konnte. Und so war er auch auf Spurensuche nach den Resten materieller deutscher Kultur, soweit etwas an sehenswerter Architektur nach dem Bombenkrieg übrig geblieben war. Sein besonderes intellektuelles Interesse galt dem gedruckten Wort, und deshalb stöberte er mit Leidenschaft in Schul- und Stadtbibliotheken, aber auch bei Buchhändlern und Antiquaren. Für Lasky war es bemerkenswert - neben NS-Literatur übelster Art - auch noch Bücher zu finden, die von humanistischer Gesinnung getragen waren.
Die Gespräche mit den Besiegten, seien es Zufallsbekanntschaften oder Persönlichkeiten gewesen, führte Lasky „ohne jede Siegerattitüde, mit stiller Empathie“. Er sah genau hin und hatte einen offenen Blick für die Menschen und das zerstörte Land. Die Bevölkerung empfand er nicht feindlich gesinnt, sondern eher apathisch ihrem Schicksal ergeben. Einem „Werwolf“-Widerstand, wie es die US-Army-Führung erwartet hatte, ist er nirgends begegnet. Kaum einer seiner Zufallsgesprächspartner bekannte sich zu einer deutschen Kriegsschuld, Nazis waren stets die anderen. Tenor war: Die Deutschen seien nicht identisch mit dem Nazitum - und das bei sechs Millionen NSDAP-Mitgliedern! Aber Lasky hörte auch erstmals von Widerstandsaktionen, so von der Gruppe um die Geschwister Scholl in München. Am 11. April 1945, also wenige Wochen vor dem Kriegsende, traf er in Frankfurt a.M. auf einen deutschen Arzt, der ihn zu den Trümmern von Goethes Geburtshaus führte. Und dieser Deutsche sagte ihm, daß die vernünftig denkenden Menschen nicht verschwunden seien und diese später zur neuen Führung gehören würden. Und daß er hoffe, daß wieder ein freies Deutschland entstünde. Gewiß war für diesen Frankfurter Bürger der spätere 8. Mai auch ein „Tag der Befreiung“. In Braunschweig dagegen traf er auf einige Jüdinnen, die die Lager überlebt hatten und einen Café-Ausschank betrieben. Diese meinten mit Blick auf die Trümmer der Stadt, daß dies die Deutschen verdient hätten. Nicht alle Deutschen hätten weggeschaut, es hätte auch anständige gegeben, die versuchten zu helfen. Auch Laskys Kameraden waren der Meinung, für das Leid, welches die Deutschen über die Völker Europas gebracht hätten, wären sie mit ihren zerstörten Städten und der Niederlage der Wehrmacht noch viel zu gut weggekommen. Lasky widersprach diesen Stimmen nicht ausdrücklich.
Melvin J. Lasky notierte in seinem Tagebuch auch harsche Worte über die eigene Truppe. So das Fehlen jeglichen Interesses seiner Mitstreiter an den Trümmerresten europäischer Kultur. Er benannte Fehlverhalten Einzelner – Tötung von deutschen Kriegsgefangenen, auch deutliche Kritik an der Kriegsführung, etwa Tieffliegerangriffe auf Zivilisten noch in Frankreich, das Plündern und auch die nicht so seltene Gewalt gegen Frauen oder die demütigende Behandlung gefangener deutscher Generale. Er beschrieb aber auch die aller Orten anzutreffende Überforderung der US-Army als Militärregierung oder den laschen Umgang mit lokalen Nazi-Bonzen und das frustrierende Desinteresse an der Aufklärung deutscher Kriegsverbrechen. Auffällig dabei ist, Lasky notierte, ohne aber zu kommentieren.
 
Das anfängliche strikte Fraternisierungsverbot sollte jeglichen Kontakt mit dem Feind unterbinden. Lasky hat sich, obwohl Offizier, nie daran gehalten, denn ohne Gespräche mit den Besiegten hätte er ja weder seine militärische Aufgabe erfüllen, noch sein privates Informationsbedürfnis über Deutschland und die Deutschen befriedigen können. Daß das Fraternisierungsverbot aufgehoben werden mußte, war auch den deutschen „Frauleins“ zu danken, die die Nähe zu den GIs suchten (übrigens auch zu den farbigen Soldaten) und umgekehrt. Verständlich, daß sich nach den langen, finsteren und kargen Kriegsmonaten junge Frauen nach Abwechslung, Zuneigung und Vergnügen, eben nach Leben sehnten. In diesen harten Notzeiten zahlten die GIs für Freundlichkeiten oder Liebesdienste mit der Soldatenwährung: Zigaretten, Alkohol, Kaffee, Schokolade oder auch Nylons. Darin bestand der gewaltige Unterschied zu den Schrecknissen der massenhaften Vergewaltigungen nach dem Siegeszug der Roten Armee im Osten. Melvin J. Lasky, jung wie er war, hatte in den zerbombten Städten, die er bereiste, überall seine Liebschaften. Irgendwelche Schamgefühle entwickelte er dabei nicht. Eine seiner Freundinnen, Brigitte N. sollte bald nach Kriegsende seine erste Frau werden.
 
Zu den intensivsten Eindrücken, die Lasky in seinem Tagebuch festhielt, gehören die mehrfach geführten Gespräche mit dem Philosophen Karl Jaspers in Heidelberg über philosophische Themen, über die Rolle des Philosophen Martin Heidegger in der Nazi-Zeit, über die Zukunftsperspektive Deutschlands und über die Wiedereröffnung der Heidelberger Universität. Ob seiner untadeligen Haltung während der NS-Diktatur war Jaspers von der US-Militärregierung in das Auswahlgremium für den neuen Universitäts-Rektor berufen worden. Für Jaspers stand fest, daß die deutsche Schuld „keine Kollektivschuld“ sei, sondern „die existenzielle Schuld darin bestehe, daß man angesichts des anderen zugefügten Unglücks überhaupt noch lebe.“
Im Herbst 1946 bereiste Lasky von West-Berlin aus, wo er inzwischen lebte, Thüringen. In diesem Land, das zur Sowjetzone gehörte, erlebte er die zügig vorangetriebene Sowjetisierung – die Stalin-Bildnisse in den Straßen, die „bejubelte“ Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED, die Zerstörung der Infra-Struktur durch die Demontage des zweiten Gleises der Reichsbahn und das Ausgraben erdverlegter Stromkabel. Aber er hörte auch die Lügen über das „Speziallager“, das die Russen im ehemaligen, von der US-Army befreiten KZ Buchenwald, eingerichtet hatten. Die Bevölkerung der Sowjetzone war in diesen Nachkriegsjahren rechtlos den Willkürakten der roten Sieger ausgeliefert - Menschen verschwanden von einem Tag auf den anderen, ohne je zurückzukehren. Das alles bestärkte Lasky in seiner konsequent antikommunistischen Position, die er nach seiner Demobilisierung als freier Journalist, Autor und Herausgeber vertrat. Drei wesentliche Ereignisse, die mit dem Namen Lasky in Verbindung stehen, seien noch erwähnt – sein provokant-mutiger Auftritt vor dem 1. (Gesamt-) deutschen Schriftstellerkongress 1947 in Ost-Berlin, die Herausgabe der antikommunistischen Zeitschrift „Monat“ (1948) noch während der Berlin-Blockade und die entscheidende Mitarbeit am ständigen „Kongress für kulturelle Freiheit“ im Jahre 1950.
 
Daß Melvin J. Lasky sich bis zu seinem Tod nie wieder mit diesem Tagebuch beschäftigt hat, mag auch darin begründet sein, daß ihm seine damalige Position noch zu verschwommen gewesen sein könnte, zu viel Unerfahrenheit, zu viel flüchtiger Eindruck und zu wenig gesellschaftliche Analyse, geschuldet seiner Jugend. Das Tagebuch gelangte mit seinem Nachlaß in das Center for Transatlantic Studies an der Münchner Universität. Der Herausgeber des „Deutschen Tagebuches 1945“, der Historiker Wolfgang Schuller, langjähriger Freund der Familie Lasky, sieht im Tagebuch „ein authentisches, kostbares Zeitdokument“. Der Titel geht auf einen Ausspruch Laskys zurück, und in den selbstvergessen spielenden Kindern auf dem Schutzumschlag hätte der Autor seine Hoffnung auf die Zukunft verwirklicht sehen können.
 
Melvin J. Lasky - „Und alles war still / Deutsches Tagebuch 1945“ (Hrsg: Wolfgang Schuller)
© 2014 by Rowohlt-Berlin, 496 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-87134-708-5
24,95 €
 
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