Unterwegs zum großen Glück

„Die Wupper“ von Else Lasker-Schüler

von Martin Hagemeyer

v.l.: Miko Greza, Uwe Dreysel, Julia Reznik - Foto © Christoph Sebastian

Unterwegs zum großen Glück

„Die Wupper“ von Else Lasker-Schüler
Inszenierung schickt Publikum wie Ensemble quer durchs Tal
 
Es ist immer gut, Neuem ohne Vorurteile zu begegnen. Zur Inszenierung des Stücks „Die Wupper“ von Else Lasker-Schüler in deren Heimatstadt gab es die Ankündigung: „Theatraler Gang“ – „Audiowalk“ – immerhin „begleitet“ von den „Figuren“ der Dichterin. Wer das vorab eher suspekt fand und die Regie explizit ansprach auf den Verdacht des „Events“, der merkte schnell: Die wollen nicht nur Spektakel. Und so bestieg man den Bus mit der Offenheit, die jede Premiere ja auch eigentlich erwarten darf.
Der Bus ist ein Publikumsraum des Abends, denn er kutschiert die Zuschauer zu den insgesamt vier Spielorten quer durch die Stadt und beherbergt einen Akt per Hörspiel auch selbst. Denn das ist die Idee der Aufführung: Das Werk soll außerhalb des Theaters gespielt werden, an jeweils passenden Orten. Und so verfolgt man das Geschehen um die Proletarierfamilie Pius im realen Raum der Bandweberei Büsgen, nachdem man vom Engelsgarten und dem Akt um die Industriellen-Familie, die Sonntags, aufgebrochen ist. Weitere Stationen: Der Wuppertaler Zoo (Jahrmarktszene), die Niederländisch-Reformierte Gemeinde (Sterbeszene) – und irgendwo dazwischen das Wupperufer für das Hörspiel.
 
In der Tat ist es ein außergewöhnlicher Abend. Der Lasker-Schüler-Freund erlebt das Stück neu, der Wuppertaler seine Stadt. Den letzteren Aspekt verstärken noch die ebenfalls integrierten Experten, die während der Fahrt Erläuterungen geben, sachlich bis gesprächig: Stadtarchiv-Leiter a.D. Dr. Uwe Eckardt referiert über die Stadtgeschichte, Hajo Jahn von der Lasker-Schüler-Gesellschaft über die Dichterin (dieses Gespann wechselt sich im Verlauf der Aufführungen ab mit dem Stadthistoriker Rainer Rhefus und MdL Andreas Bialas).
Und der erste Aspekt, sprich: das Stück? Nun, das Konzept bringt anders als sonst im Theater Schauspiel mit externen Orten zusammen, es will Zusammenwirken von Spiel und Umfeld. Praktisch-prosaisch entführt denn auch die Weberei an der Friedrich-Engels-Allee ins Arbeitermilieu, weil der Ort so ist wie er ist: Es riecht nicht nur alt im Maschinenraum, schon das Schild im Treppenhaus wirbt verstaubt: „Bänder-Paradies – Fabrikverkauf“.
 
Hier und anderswo zeigen sich Wirkungen des Orts. Lieschen, die Schwester des Färbers (Julia Reznik) klettert hinauf zu den halbblinden Fabrikfenstern, da rattert draußen die Schwebebahn vorbei, und im Spiel schaut sie ihr neugierig hinterher. Oder: Hat man glücklich im Zoo die Konzertmuschel erreicht  und folgt von dort Akt drei, entspannt sich eindrucksvoll ein Jahrmarktpanorama mit Kirmeswagen und fast mystischem Fahnenschwenken (Daniel F. Kamen). Große Gesten und Anarchie: Reales Frösteln, reales Entengeschnatter umgeben flammende Worte des Revolutionärs (Konstantin Shklyar) – in solchen Momenten mag man finden: Da stimmt auf einmal alles. 
 
Wie weit das gelingt: Das bleibt aber Glückssache. Wenn auch der Regie zu glauben ist, daß sie mit diesem Abend mehr will als bloßen Theater-Tourismus: Die Tour spielt zwangsläufig die Hauptrolle. Zweifellos gibt es dramaturgisch eine klare Linie: Die drei „Herumtreiber“ zum Beispiel schließen gleich drei Akte mit ihren Auftritten ab und geben heute dem Abend einen Bogen ebenso wie eine dunkle Grundierung. Nur fragt sich, wieweit Atmosphäre überhaupt wirken kann, wenn Sekunden drauf die „Tourguides“ zum Abmarsch bitten (die übrigens für den Gesamtablauf ganz unverzichtbar sind und dezent agieren, soweit das denn möglich ist).
Und auch an die Schauspieler darf erinnert werden, gerade wem es heute um „Echtheit“ geht. Wesentlich für Schauspielkunst, so sagt man doch, ist etwa die Identifizierung der Künstler, sie sollen und wollen sich einfühlen, „der Figur Wahrheit geben“. Der Betrachter kann nur mutmaßen: Kann das gelingen und ist es zumutbar, wenn man die halbe Zeit im Auto sitzt und mit hängender Zunge die nächste Bühne erreicht? Und Momente, in denen sich Eindrücke fügen, bietet Theater sonst auch ganz ohne Bus.
 

Philippine Pachl - Foto © Christoph Sebastian
 
Die Wupper von Else Lasker-Schüler
Eine Reise ins Innere der Stadt – ein theatraler Gang begleitet von den Figuren Else Lasker-Schülers und ExpertInnen der Stadt und für Stadtgeschichte
 
Regie & Bühne: Stephan Müller - Kostüme: Siegfried Mayer - Musikalische Einstudierung: Stefan Leibold - Dramaturgie: Susanne Abbrederis - Produktionsleitung: Helene Vogel - Regieassistenz: Mona vom Dahl - Inspizienz/Tourguide: Stefan Leibold     
Besetzung: Frau Charlotte Sonntag, Fabrikbesitzerin: Anuk Ens - Heinrich, ihr Sohn: Stefan Walz - Eduard, ihr Sohn: Daniel F. Kamen - Marta, ihre Tochter: Tinka Fürst - Dr. jur. Bruno von Simon: Thomas Braus - Großvatter Wallbrecker: Miko Greza - Amanda Pius, seine Tochter: Anuk Ens - Carl Pius, sein Enkel: Uwe Dreysel - Mutter Pius, Carls Großmutter väterlicherseits: Philippine Pachl - Der Pendelfrederech, ein Herumtreiber: Miko Greza - Lange Anna, ein Herumtreiber: Stefan Walz - Der gläserne Amadeus, ein Herumtreiber: Thomas Braus - August Puderbach, Färber: Konstantin Shklyar - Lieschen, sein Schwesterchen: Julia Reznik - Willem, Zuhälter, ehemaliger Weber: Daniel F. Kamen - Auguste, Dienstbote im Hause Sonntag: Julia Reznik - Berta, Dienstbote im Hause Sonntag: Nelly Politt - Chor der Damen/Herren (FabrikarbeiterInnen, Herumtreiber, Jahrmarktleute, Kinder usw.): Statisterie der Wuppertaler Bühnen 
 
Weitere Informationen: www.wuppertaler-buehnen.de