Der Spott der kleinen Dinge

Nahtod

von Lars von der Gönna

© Heiko Sakurai
Nahtod
 
Neulich wäre ich fast gestorben. Fast ist ja keine Nachricht. Papst fast gewählt, Steuern fast gesenkt, Sandy Meyer-Wölden fast geheiratet – damit kommt man als Journalist normalerweise nicht durch. Aber die Ferien haben angefangen, da sind Fast-Nachrichten das Salz in der Suppe.
    Ich wäre neulich fast gestorben, weil ich eine Kerze hatte brennen lassen, direkt auf der Tischdecke. Daß nicht alles in Flammen stand, während ich schlief, ist der reine Zufall. Es lag an der Kerze, sie brannte schlecht. Sie brannte so schlecht, daß ich sie beim Zubettgehen nicht mal als Kerze erkannt habe. Der Raum war komplett dunkel. Da gibt es nichts auszupusten, dachte ich.
    Es war eine Kerze, die ihren Namen kaum verdient hatte. Wenn die Kerze ein journalistischer Gegenstand gewesen wäre, hätte ich höhnend über sie geschrieben: Kerze fast gebrannt – natürlich auch nichts, um einen Nannen-Preis abzuräumen.
    Die Kerze hatte uns eine Nichte gebastelt, die auf die Waldorfschule geht. Wenn ich Wesen von einem anderen Planeten erklären sollte, wie sich eine von Waldorfkindern gebastelte Kerze von Staatsschulkinderkerzen unterscheidet, würde ich sagen: Sie ist diddelmäusefrei und brennt schlecht.
    So gesehen hat die Waldorfschule mein Leben gerettet. Als ich am Morgen den schwindsüchtig flackernden Docht sah, mußte ich an meine Fast-Beerdigung denken. Es lag ja nur an der Waldorfschule, daß es mich noch gab. Ich machte eine Liste, wer auf die Beerdigung kommen darf und wer nicht, welches Lied man singen soll. Ich unterdrückte ein Schluchzen, als ich aufschrieb, wer meine Wagner-Platten erbt. Fast-Beerdigungen sind natürlich deutlich trauriger als andere; der Verstorbene lebt ja noch.
    Als ich mit Tränen in den Augen meiner Frau von der Beerdigung erzählte, verwies sie nüchtern auf die Rauchmelder im Flur.

Letztlich bleibt man sich fremd.
 

© Lars von der Gönna - Aus dem Buch „Der Spott der kleinen Dinge“
mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Henselowsky Boschmann und der WAZ.