Augenblicke

von Hanns Dieter Hüsch

Foto © Paul Maaßen
Augenblicke
 
Haben Sie manchmal auch so Augenblicke
Wo Sie Ihre eigene Schrift nicht mehr lesen können
Es fängt meistens ganz anders an
Man fährt irgendwo vorbei
Auto Omnibus Straßenbahn Fahrrad
Egal
Und da steht groß an einer Häuserwand
Als Reklame geschrieben:
Haus der Seide
Und Sie lesen:
Haus der Freude
Nun kann man natürlich nicht alles auf
Sigmund Freud schieben
Der hat ja auch mal gesagt
Daß ein Zeppelin nicht immer ein Symbol sei
Aber so wie es keine einfachen Versprecher gibt
Gibt es auch keine einfachen Verleser
Da steckt ja immer hab ich gelernt
Ein ganz tiefer psychologischer
Verdrängungsmephisto
Ach in jeder Brust
Aber das ist gar nicht schlimm
Wir haben ja alle mal klein angefangen
Und außerdem lese ich doch wenigstens noch etwas
Wenn da steht Ordnungsamt
Und ich lese Oktoberabend
Da lese ich doch wenigstens noch etwas
Also ich schreibe abends etwas in mein Notizbuch
Ich hab so fünf sechs Notizbücher
Weil ich mir alles aufschreiben muß
Ich behalte ja auch nix mehr
Und wenn ich also abends was aufschreibe
Kann ich es am anderen Morgen nicht mehr lesen
Nun hab ich schon gedacht das liegt am Abend
Und hab es morgens aufgeschrieben
Aber da konnte ich es am Abend auch nicht lesen
Und da bin ich natürlich wachsam geworden
Und hab mir gesagt
Alter Junge hab ich mir gesagt
Da stimmt was nicht!
Ich schrieb also abends hin als Beispiel
Mein lieber Freund und Kupferstecher
Und weiß morgens nicht mehr was da steht
Und radebreche und radelese dann immer
Mein siebtes Bein und Buttermesser
Ungelogen
Weiß aber genau daß das nicht stimmt
Daß ich das am Abend nie dahin geschrieben habe
Und da bin ich dann doch zum Arzt und da
Sagt der zu mir:
Das liegt an Ihrer Brille
Na Gott sei Dank Herr Doktor hab ich da gesagt
ich dachte schon es wären die Augen
Ich hab nämlich drei Gallenkoliken hinter mir
Kann das vielleicht mit der Brille zusammenhängen
Nein sagt er in Wirklichkeit sind es natürlich
Die Augen
Sehen Sie Herr Doktor hab ich da gesagt
So fängt es meistens an
Bei Ihnen auch schon
Sie meinen die Brille sagen aber die Augen
Ich verlese mich Sie versprechen sich
Jetzt sind wir quitt
Danke schön und schicken Sie mir die Rechnung
Das mit der Brille übrigens
Hab ich von meinem Vater geerbt
Weil der nämlich seine Brille nur alle zwei Monate
Putzte
Konnten die Augen natürlich nichts machen
Hätte er sie jeden Tag geputzt
Hätte er gar keine Augen gebraucht
So ist das Leben
Er war übrigens der Erfinder von einigen
Verkehrsschildern
Die immer so auf der Straße rumstehen
Wie zum Beispiel:
Vorsicht - Kinder!
Als er pensioniert war hat er sich noch mal hingesetzt
Mit der Laubsäge hat er sich so Schilder ausgesägt
Und dann die Texte draufgeschrieben
Ich fand das toll und hab ihn auch
Immer dazu animiert
Hab zu ihm gesagt du mußt das machen
Misch dich noch mal ein
Die Gesellschaft braucht dich
Einige Schilder hat er auch ans Verkehrsministerium
Geschickt
Es sind nicht alle genommen worden aber immerhin
Gas Weg - Schule
Oder
Pferd weg - Cowboy
Das ist glaube ich genommen worden
Also wenn Sie so ein Schild mal auf der
Autobahn sehen
Das ist von meinem Vater
Fuß weg - Metzger
Mund auf - Arzt
Und
Hut ab - Kirche
Und so weiter
Ich hab mich inzwischen damit abgefunden
Daß ich meine Schrift nicht mehr lesen kann
Vielleicht kann ich eines Tages bei der Spionage
Als Geheimschreiber unterkommen
Mal gucken
Das meiste spreche ich jetzt abends aufs Tonband
Aber ich muß zugeben
Es gibt auch da schon morgens Augenblicke
Wo ich mich nicht mehr hören kann.
 
Hanns Dieter Hüsch


© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Wir sehen uns wieder" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Das Foto stellte freundlicherweise Paul Maaßen zur Verfügung