Alles stirbt. Auch die Freunde sterben.

Karl Otto Mühl – „Totenwache“ - Abschiede

von Frank Becker

Umschlagzeichnung: Karl Otto Mühl
Totenwache
 
Karl Otto Mühls Abschiede

„Gestern fuhr ich Fische fangen,
Heut bin ich zum Wein gegangen,
- Morgen bin ich tot."
(Werner Bergengruen)

 
Langjährige Musenblätter-Leser werden einige der Erzählungen aus Karl Otto Mühls jüngstem und zugleich vielleicht bewegendstem Buch kennen. Seit nunmehr acht Jahren haben wir sie sporadisch, jeweils nach ihrem Entstehen quasi noch mit feuchter Tinte veröffentlicht. Es sind Abschiede, klug und behutsam in leise Worte gefaßt, unbestechlich nüchtern im Urteil oft, zugleich aber auch zart. Karl Otto Mühl benötigt keine plakativen Formulierungen, keine schreienden Überschriften. Mit der Gabe eines phänomenalen Gedächtnisses beschenkt, das sich Schulter an Schulter mit der Weisheit eines langen, erfahrungsreichen Lebens in seiner brillanten realistischen Prosa niederschlägt, nimmt der Autor seine Leser Erzählung um Erzählung mit auf eine Reise, die keine Wiederkehr kennt. Daß diese, seine und unsere Lebensreise, zwangsläufig mit dem Tod endet, wissen wir zwar, doch wir schlagen vor dem Unausweichlichen furchtsam die Augen nieder: „Nicht ich! – Nicht schon jetzt!“. Daß jeder der 21 Geschichten vom Sterben ein tatsächliches Schicksal zu Grunde liegt, eine wahre, oft schmerzliche und traurige persönliche Erfahrung, macht die Sammlung, die unter dem Titel „Totenwache“ als Buch nun im Brockmeyer Verlag erschienen ist, besonders wertvoll. Mühl gibt den Toten einen letzten Auftritt, zeigt, daß sie weder umsonst gelebt noch vergessen gestorben sind. Seine Texte tun das, was der Titel sagt: sie halten jenen eine ehrenvolle Totenwache – stellvertretend für alle, die einmal gelebt haben und nun nicht mehr sind.
 
Karl Otto Mühl (92) faßt seit Jahren, mittlerweile mit einer gewissen Heiterkeit, das Ende ins Auge, nennt es beim Namen und hat die bürgerliche Attitüde schon lange abgelegt, Freund Hein als Feind zu sehen. „Und dann bin ich bei meinem Dauerthema, dem Sterben. Ich schriebe zu viel darüber, hat jemand gesagt, aber ich kenne seinen Maßstab nicht. Bei mir ist das so, daß ich mich an den Gedanken gewöhnen möchte, aber ich weiß nicht, ob das möglich ist. Ich mache mir klar, daß ich einfach an eine Grenze kommen werde, wo mein Bewußtsein schwindet, jedoch, den Augenblick des Grenzübergangs erlebe ich wahrscheinlich nicht, ebenso wenig, wie ich die Sekunde des Einschlafens erlebe. Ich fantasiere weiter, stelle mir vor, daß dies ein Augenblick des Absprungs ins Unendliche sein wird. Mehr liefert mir meine Fantasie nicht.“
 
Dem Leser von „Totenwache“ aber liefert Karl Otto Mühl dennoch mehr. Er ebnet Gedanken einen Weg, nimmt sogar ein wenig die Furcht, versöhnt mit dem Undenkbaren, Unausweichlichen, schenkt letztenendes die Hoffnung auf ein Erinnern der Nachwelt, dessen Ausbleiben wir vielleicht noch mehr fürchten als den Tod selbst - und sei es auch nur eines einzigen Freundes. Er zeichnet damit sein philanthropisches Menschenbild. Und er macht Mut:
 
Zum Schluß
Die unsterblichen Akteure kommen noch einmal auf die Bühne, eingehakt nebeneinander, mit fröhlichen Gesichtern, wie Ärzte, die einem Privatpatienten die völlige Heilung bestätigen können.
Sie schauen dich an und hören deine Frage: Warum seid ihr überhaupt gekommen? Warum wart Ihr da, bei mir?
Du hast uns gerufen, sagen sie. Du wolltest wissen, wer du bist.
Und?
Das haben wir dir gesagt. - Und ob du so sein darfst, wolltest du wissen.
Ach ja?, sage ich erstaunt. Und weiter?
Von uns aus ist alles in Ordnung. Aber wir haben die Frage weitergegeben.
 

Karl Otto Mühl – „Totenwache“ - Abschiede
© 2015 Brockmeyer Verlag, 104 Seiten, Broschur – ISBN 978-3-81960981-7
9,90 €
 
Weitere Informationen: www.brockmeyer-online.de
Grabschrift eines Mannes
 
Alles stirbt. Auch die Freunde sterben.
Sorget nicht um mein Grab.
    Erde bedeck' es.
    Wind beleck' es.
    Sonne beschein es.
    Regen bewein es.
Treulos sind Menschentränen,
Menschenarme und Menschenküsse.
Doch eure Herbe und Süße,
ihr vier unsterblichen Freunde,
dringet zu mir hinab.
 
Rudolf G. Binding