122 Anlässe zum Vergnügen

Otto Jägersberg – „Keine zehn Pferde“

von Frank Becker

122 Anlässe zum Vergnügen
 
oder
 
Otto Jägersberg erklärt die Welt
 
Vom Nichts
 
Am Anfang war das Nichts
Es bestand aus vielen Nichtsen
Sie rieben sich aneinander
Es kam zur Explosion
Weg war das Nichts
Dafür war Raum
Das ist alles
 
Von Träumen und Realitäten, von kleinen Freuden, von Beobachtungen und den täglichen Erkenntnissen, die der Alltag uns in Fülle bietet erzählen die 122 Gedichte in Otto Jägersbergs jüngster Sammlung – keine Bilanz, notabene, allenfalls ein lyrischer Honigtopf, der zu mehr Jägersbergscher Lektüre lockt, ja verführt. Samt und sonders Köstlichkeiten sind diese Texte, die sich Prosagedichte nennen, einer wie der andere - von Miniaturen in der Tradition von Tanka und Haiku „Wie der Regen“ oder „März“ bis zu nahezu epischen Stücken wie „Bitteres Weh über ein verschwundenes Fahrrad“ (in Jägersbergs münsterländischer Heimat durchaus ein Alltagsthema) oder das kulinarische Loblied „Stampfkartoffeln“. Schmankerln sind das, die man eins ums andere genüßlich konsumiert, die nach Hoppel Poppel, Pumpernickel, Pickert und schmecken, aber durchaus auch nach Zitronen- oder Erdbeer-Sahne-Schnitten und süffigem Wein.
 
Das sind mal aufblitzende Momentaufnahmen wie „Bahnhof Herbolzheim“, mal tief in die Seele eintauchende Bekenntnisgedichte. „Still ruht der See“ ist so eins, dessen Suche nach Margit Förster“ eine atemberaubende Botschaft ist. Wer hätte nicht schon diesen (oder einen verdammt ähnlichen) Traum geträumt? Naturlyrik und humoristische Dichtung stehen Schulter an Schulter, Bekenntnis und Wunsch ersetzen Beichte und Weihrauch. In zehn kluge Kapitel eingeteilt öffnet Otto Jägersberg einen brillant gefaßten Kosmos an Empfindungen und Wahrheiten, der zunächst einmal seiner zu sein scheint, der sich sehr bald schon als universell erweist. Ich möchte nämlich wetten, daß schon beim ersten neugierigen Blättern nahezu jeder Leser voller Inbrunst diesen Kosmos als den seinen erkennt.
Otto Jägersberg hat in seiner seine ureigene Sprache gelegentlich eine starke Nähe zur Klugheit der großen Lyrikerin Eva Strittmatter – und das ist durchaus eine Auszeichnung seines Werkes. Das wunderbare Buch gehört nicht ins Regal zwischen andere gepreßt, das muß man immer in der Nähe behalten. Von den Musenblättern bekommt „Keine zehn Pferde“ unser höchstes Lob: den Musenkuß.
 
 
Bahnhof Herbolzheim
 
Im Fahrradunterstand
ein blaues Damenfahrrad
hinten platt
 
Es ist Sonntag
 
Nur dieses eine Fahrrad
im Unterstand
und hinten platt
 
 
„Wohin mit dem Gedicht?“ fragt Otto Jägersberg auf Seite 175. Die Antwort fällt leicht:  Na in dieses herrliche Buch!
 
Frühling
 
Der Frauen Brüste zittern wieder
bei jedem Schritt
Der Bank entstemmt der Alte
sich mit seinem Stock
und seine Frage zittert
Darf ich mit
 
Otto Jägersberg – „Keine zehn Pferde“
© 2015 Diogenes Verlag, 198 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag  -  ISBN 978-3-257-06922-8
19,90 €
 
Weitere Informationen:  www.diogenes.ch