„Geschlossene Gesellschaften“

Hut ab vor Alfred Biolek!

von Konrad Beikircher

Foto © Frank Becker
„Geschlossene Gesellschaften“
 
Zahnlos sei er geworden, der Biolek, wo er doch früher immer so einen vergnüglichen Biß gehabt habe. Weichei sei er, salbadere mit jedem über alles und sei endlich da gelandet, wo er immer schon hingehört habe: auf dem Schmusekissen der Beliebigkeit. Keine heißen Eisen fasse er an, damit er sich nicht verbrenne, und das Einzige, was er an Profil habe, sei sein Unterbiß. Herrschaften, ich kann es nicht mehr hören! Als seien im Vergleich zu ihm Stefan Raab Jonathan Swift und Harald Schmidt Oskar Panizza. Ich kann es nicht mehr hören, wie einer runtergemacht wird, bloß, weil er schon so lange dabei ist und weil er die Aufmerksamkeit, die er (Gott sei Dank) immer noch erregt, nicht nur zur Unterhaltung nutzt. Womit wir beim Thema wären: Ich habe fünfzehn Jahre lang von 1971 bis 1986 als Diplom-Psychologe in nordrhein-westfälischen Knästen gearbeitet. Was haben wir uns in dieser Zeit Unterstützung von „draußen“ gewünscht! Nicht um auf unerträgliche Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen, nicht um sozialtriefend auf Tränendrüsen drücken zu können, wie schrecklich das Schicksal der Knackis sei, nicht um auf die Unmenschlichkeit geschlossener Systeme (da sind Psychiatrie und Knast ja einander nicht unähnlich) hinzuweisen, sondern um diese Mauer der Selbstgerechtigkeit derer da „draußen“ anzukratzen. Knast ist ja nicht die jeweilige Justizvollzugsanstalt, wo immer sie auch liegen mag, Knast ist die unerträgliche Borniertheit, mit der achtzig Prozent der Deutschen denken und zeigen, daß sie gesund, in Ordnung, „normal“ seien, und, wer nicht so sei wie sie, eben krank, pervers oder kriminell sein müsse. Heute noch wünschte ich mir, daß jeder Deutsche mal im Knast oder in der Psychiatrie sehen könnte, wie „normal“ die meisten der Insassen dort sind.
 
Ich meine damit folgendes: Das Erste, was du verlierst, wenn du im Knast arbeitest, ist der Glaube an die Rechtsstaatlichkeit. Vielleicht ist es heute besser geworden, damals war es erschreckend. Es war damals möglich, daß einem Jugendlichen, der das erste Mal vor Gericht stand, weil er was geklaut hatte (eine Jacke im Wert von 34,50 DM in der „Kaufhalle“), eine Jugendstrafe ohne Bewährung von drei Jahren aufgebrummt werden konnte. Beschlossen und verkündet und ab in die Kiste, drei Jahre ohne Bewährung! (Nur eine Geschichte von vielen: Bruno, ich hab Dich nie vergessen. Daß wir Dich dann aus der Kiste heraushebeln konnten, damit Du endlich mal in ein solides Heim kommen konntest, wo man sich das erste Mal in Deinem Leben um Dich gekümmert hat, grenzte schon an ein kleines Wunder.) Und das Zweite, was du in einem Knast lernst, ist, daß eine geschlossene Gesellschaft Dynamiken produziert, die mit der Welt „draußen“ nichts mehr gemein haben (und zwar bei allen Beteiligten). Davon aber weiß einer „draußen“ nun gar nichts! Wie sehr also hätten wir uns damals einen wie den Biolek gewünscht, der dabei geholfen hätte, diese Mauern der Ignoranz mit einzureißen, naja, anzukratzen. Einfach dadurch, daß er „so eines“ in seine Sendung einlädt, sich mit ihm unterhält, ihn oder sie sagen läßt, was war. Denn das, Herrschaften, ist nach wie vor einer der wenigen Wege, wie das überhaupt gehen kann: die „Normalen“ für die Randgruppen sensibilisieren. Das geht nicht über Proteste, über Polemiken oder über Artikel in den Fachzeitschriften. Das geht, wenn überhaupt, über die Gottschalks, die Bioleks, die Raabs oder die Schmidts. Nur: Außer Biolek tut es keiner! Warum das nur über diese „Lichtfiguren“ geht? Weil die Stammtische keine „Neue Juristische Wochenschrift“ lesen oder die „Zeitschrift für Kriminologie“ oder gar psychologische oder sozialtherapeutische Fachzeitschriften, weil die Stammtische nicht auf Demos gehen für die Rechte von Randgruppen, weil die Stammtische immer noch die Welt mit ihrem eigenen Gürtel vermessen und dieses Maß für das Maß aller Dinge halten und weil die Stammtische gern fernsehen. Auch den Biolek. Und das muß so einer wissen, egal wie er heißt, daß er dadurch, daß er geguckt wird, eine Verantwortung hat. Er oder sie müssen wissen, daß das bedeutet, diese Republik mit zu gestalten, weil Sätze, die er oder sie sagen, mehr bewirken als eine Regierungserklärung. Und noch mehr wirkt, was sie auslassen, die „Lichtgestalten“, was sie nicht sagen, was sie aussparen. Tut mir leid, liebe Sozialkämpfer, Engagierte, Euch-Aufopfernde, Streiter für die Gerechtigkeit: Ohne Euch geht es nicht, klar, aber ohne die „Lichtgestalten“ auch nicht! Alle, die wir in geschlossenen Gesellschaften (um beim Knast und der Psychiatrie zu bleiben) arbeiten oder, wie ich, gearbeitet haben, haben die bittere Erfahrung gemacht, daß Informationen (so überzeugend sie für den Wissenden sein mögen) gar nichts nutzen, daß Einstellungen von gesamtgesellschaftlichem Ausmaß nur geändert werden können über ganz persönliche Beispiele. Und die Änderungen sind, wenn überhaupt, homöopathisch dosiert. Aber: Das ist immerhin etwas!
 
Wenn einer wie Biolek Insassen aus geschlossenen Institutionen vor die Kamera holt, indem er zu ihnen geht, mit ihnen so spricht, wie wir wissen, daß er mit Menschen spricht, ihnen die Chance gibt, aus ihrem Leben zu erzählen, dann merken auch die Stammtische, daß ein Krimineller nicht nur einfach ein Schwein ist, daß man in den Koben sperren muß. Dann merken auch sie, daß Knast nicht ein Allheilmittel sein kann, weil sie über die Glaubwürdigkeit, die Biolek besitzt (und die andere „Lichtgestalten“ auch besäßen), anfangen, über Parias [von der Gesellschaft Ausgestoßene] etwas anders zu denken als bisher. Zugegeben: in homöopathischer Dosierung. Quer durch die Geschichte haben sich Einstellungen (wenn überhaupt) verändert, weil Einzelne den Anstoß dazu gegeben haben. Ich meine jetzt: Einstellungen gegenüber Randgruppen. Ohne Friedrich von Spee hätte man sicher noch hundert Jahre länger Hexen verbrannt, um nur ein einziges Beispiel zu nennen. Allenfalls haben sich Einstellungen gegenüber Randgruppen noch verändert, wenn persönliche Begegnungen möglich waren und damit die Erfahrung, daß „so ein“ Lebenslauf von meinem eigenen gar nicht so weit entfernt ist.
Heute ermöglicht Fernsehen die Kombination: Ein Meinungsträger spricht mit einem Paria und öffnet mir in dem Moment, wo er das tut, die Ohren für das, was der Paria, dem ich sonst nicht zuhören würde, zu sagen hat. Ich werde nachher nicht mehr ganz derselbe sein wie vorher. Zugegeben, da führt mir auch die Hoffnung die Feder, weil ich weiß: Das allein kann es nicht sein! Aber - und nochmal: Ist das ein Grund, es nicht zu tun? Biolek tut es. Er nutzt seine Popularität, er nutzt die Aufmerksamkeit, die er erregt, immer wieder (und wenn Sie mich fragen, trotzdem noch zu selten), um auf die Probleme von Randgruppen hinzuweisen, indem er einzelne Mitglieder sanft vor die Kamera holt. Da mag meckern, wer will, da mag spötteln, wer will, ich sage: Wo sind denn da die anderen Populären, die ähnliches tun? Ich vermisse bei den meisten, also auch und insbesondere bei den Fernsehleuten, das Bekenntnis zur Verantwortung, die sie einfach deshalb haben, weil sie populär sind. Alfred Biolek stellt sich dieser Verantwortung. Er ist einer von uns, die wissen: Die geschlossene Gesellschaft ist nicht drin, die ist „draußen“. Und deshalb ziehe ich meinen Hut vor ihm.  

Redaktion: Frank Becker