Es ist Frühling in Lecce

Ernest van der Kwast – „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“

von Frank Becker

Es ist Frühling in Lecce
 
„Fünf Viertelstunden bis zum Meer“
Unser Buch des Jahres

Nehmen wir einmal an, Sie hätten in all den Jahren Ihres Lesens stets nach einem, nein: dem einen Buch über das Wesen der wahrhaftigen Liebe, ihrer Größe und Gültigkeit gesucht, sich im tiefsten Inneren nach einem wirklich großen Roman von Substanz gesehnt, der Sie endlich begreifen ließe, was Sie im Grunde schon immer zu wissen vermuteten, im Herzen trugen. Nehmen wir weiter an, Ihr Wunsch wäre bis heute nicht in Erfüllung gegangen. Dann hätte ich für Sie die erlösende Nachricht: Dieser große Roman ist endlich da – wobei seine Größe nicht etwa im Umfang liegt (es sind nur 96 großzügig bedruckte Seiten) – sondern in jedem seiner Gedanken, seiner Sätze und Erkenntnisse: „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“.
 
Es ist die Geschichte der unsterblichen Liebe zwischen Ezio Ortolani und Giovanna Berlucchi, der Roman einer glühenden Leidenschaft, die mehr als sechs Jahrzehnte nach den Großen Worten suchen muß, ein Roman der Sehnsüchte, Fluchten und Versäumnisse, voller Wehmut, ein Buch, das vielen unter uns Lesern Erinnerungen ans eigene Handeln und Versäumen, Gewinnen und Verlieren wachrufen wird.
Fünf Viertelstunden zu Fuß von Lecce nach Osten zum Meer, an den Strand von San Cataldo dauert der acht Kilometer lange Weg für Ezio und seinen Bruder im Juli 1945. Sie liegen im Sand und beobachten heimlich die Frauen in ihren sittsamen Badeanzügen. Bis Sie auftaucht, Giovanna, zwanzig Jahre jung und schön, deren in zwei Teile zerrissener Badeanzug den magischen Blick auf ihren Nabel freigibt. Da ist es um die Bruderliebe geschehen, denn Ezio verfällt Giovanna für einen Sommer, trunken vom Rausch einer alles verzehrenden Liebesglut. Der Weg von Lecce zum Meer wird nun dem verliebten Paar gehören, bis…
Dem niederländischen Romanciers Ernest van der Kwast ist es gelungen, zwei volle Menschenleben und einige Handvoll Charaktere mit wenigen Strichen auf verwobenen Zeitebenen hinreißend einprägsam zu skizzieren. Er reißt dabei die Arbeitsmigration von Apulien in die fremde Welt Südtirol an, erzählt ein Stück der Geschichte Italiens und Südtirols, beschreibt eindrücklich den Wechsel der Jahreszeiten, ihrer Früchte und Blüten, die Rastlosigkeit Giovannas, die Verzweiflung zweier Einsamer, in knappen eingestreuten Bildern und marginalen Erzählungen die Vergiftung der Welt durch Atomversuche und in humorvollen Streiflichtern die wahre Erfindung des Bikinis.   
 
Überwältigendes Erzähltalent, das Fingerspitzengefühl für das Unausgesprochene, kluger Umgang mit der Intimität, die mit jedem Atemzug, jeder Faser überzeugende Empathie van der Kwasts schufen ein Meisterwerk voller Menschenliebe und Zärtlichkeit, wie ich berührender kaum je eines gelesen habe, brillante Prosa eines Menschenfreundes und sorgsamen Beobachters. Ein rührendes handwerkliches Detail ist das Lesebändchen, das hier seinen eigentlichen Zweck verfehlen muß - denn man liest das Buch, unwiderstehlich hineingesogen, ohne abzusetzen in einem Zuge. Man könnte das Bändchen zur Markierung besonders gelungener Textstellen benutzen, aber da bräuchte man dann gleich mehr als ein volles Dutzend davon.
Weil ich berechtigte Zweifel hege, ob ich in diesem Literatur-Jahr ein noch besseres, noch ergreifenderes, schöneres Buch werde lesen dürfen, gebe ich „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“ – fast auf dem Scheitel des Jahres – nicht nur unser Prädikat, den Musenkuß. Die Redaktion hat in Absprache beschlossen, diesen zauberhaften Roman schon jetzt zum Buch des Jahres zu erklären. Dank und Glückwunsch an Ernest van der Kwast und seinen kongenialen Übersetzer Andreas Ecke.
 
Ernest van der Kwast – „Fünf Viertelstunden bis zum Meer“
Roman, aus dem Niederländischen (OT „Giovanna´s navel“) von Andreas Ecke
© 2015 mareverlag, 96 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen – ISBN: 978-3-86648-205-0
18,- €
 
Weitere Informationen:  www.mare.de