Sekundenkleber

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Sekundenkleber
 
Heute habe ich mir zum hundertsten Male vorgenommen, meine Finger von jeder Spur von Sekundenkleber freihalten. Ich will einen Haken an eine glatte Oberfläche kleben. Dabei halte ich mich an meine Erfindung, eine Schicht Toilettenpapier als Zwischenschicht zu verwenden. Das hat sich in hoffnungslosen Fällen bewährt.
Die Zwischenschicht durchtränke ich schon einmal mit Sekundenkleber – zum Teufel, ich weiß nicht wie – der erste Tropfen Klebeflüssigkeit befindet sich bereits an meinem Zeigefinger. Er wird abgewischt, aber eine schnell trocknende Kruste bleibt. Wegen des raschen Trocknens muß ich mich beeilen.
Ich beschließe, das Fetzchen Toilettenpapier mit einer Pinzette anzufassen und eile ins Nebenzimmer. Da ist sie nicht, die Pinzette. Sie ist weg.
Ich eile in ein anderes Zimmer. Da ist noch eine weitere Pinzette, die ich benutze. Der Papierfetzen schlängelt sich um sie. Ich nehme ein Stück Papier zwischen die Finger und ziehe den Fetzen ab. Er läßt sich jetzt nur mit den Fingern an die glatte Oberfläche pressen. Während ich mit der einen Hand drücke, angele ich mit der anderen Hand nach dem Haken.
Mit beiden Händen drücke ich jetzt Haken und Toilettenpapier gegen die glatte Regaloberfläche. Ich zähle bis Sechzig.
Langsam ich nehme meine Hände von der Regalwand. An der klebt nun ein Stückchen Papier, an meinem Zeigefinger klebt der Haken. Die Pinzette liegt auf dem Boden und ist mit Kleber verkrustet.
Ich betrachte den Haken mit Ingrimm. Ob ich meine kostbare Haut abziehe, wenn ich ihn jetzt löse? Bin ich dann ein Selbst-Enthäuter?
 
Gestern habe ich es wieder versucht, das mit dem Sekundenkleber. Es ist fehlgeschlagen. Am Schluß meiner Bemühungen klebten Mittel- und Ringfinger der linken Hand aneinander.
So geht es also nicht, dachte ich heute. Überlege dir jede Bewegung, laß nur solche zu, die dich nicht in Berührung mit dem Klebstoff bringen, selbst um den Preis, daß du niemals einen Haken an dieser Schrankwand anbringen wirst. Gesagt, getan. Ich will ehrlich sein, der Zeigefinger ist jetzt, danach, trotzdem mit Klebstoff verkrustet. Das Zeug gleitet wie eine Schlange um die Ecken und Kanten, bis es auf warmes Menschenfleisch stößt.
Gerade habe ich mich umgedreht, um mich an dem Anblick des nunmehr festgeklebten Hakens zu erfreuen. Schade – ich sehe, er ist abgefallen. Die glatte Wand hat sich ihm verweigert.
 
 
© 2015 Karl Otto Mühl