Caspers

Ein Romanfragment

von Karl Otto Mühl

Kar Otto Mühl - Foto © Frank Becker
Caspers
(ein Fragment)

Sie hielten vor einer Stadt aus Zelten, umgeben von mächtigen Zäunen und Wachttürmen. Es war ein Camp am Großen Bittersee, bewohnt von mehreren Tausend deutscher Kriegsgefangener. Sie blickten von da auf den Berg Sinai. Moses sollte dort oben gewesen sein. Im Camp gab es bereits eine Lagerroutine, eine Lagerhierarchie und vor allen Dingen Zigaretten-Zuteilungen. Fast jeder rauchte, wenn er Zigaretten bekam.
Gleich nach der Ankunft gingen Moskat und Caspers neugierig zum Schwarzen Brett, und da hingen, unbefangen nebeneinander, der englische, der amerikanische und der deutsche Wehrmachtsbericht.
„Mann!" sagte Hans Moskat. "Sieh dir das an. Die zeigen uns unseren eigenen Wehrmachtsbericht." Beide spürten einen Hauch der Demokratie und lasen fasziniert. Das Afrika-Korps kämpfte noch, stand im deutschen Bericht. Hier und da Geländegewinne, hier und da neue Stellungen bezogen. So war es formuliert. Caspers las es nicht ohne Angstgefühl, weil er nicht begierig war, daß Deutschland gewinnen möge. Seit er der Herrschaft entkommen war, spürte er Unabhängigkeitsbedürfnisse. Die Welt war ungeheuer groß, die Feinde waren Menschen, die ihn leben ließen. Im Altertum hatten die Chinesen ihre Kriegsgefangenen lebendig begraben. Eigentlich wollte Caspers nie mehr mit eisernem Gesicht und Stahlhelm irgendwo stehen. So etwas durfte man eigentlich nicht fühlen, wußte er von vor wenigen Wochen noch. Aber nun war alles anders geworden, merkwürdig. Seltsam, wie rasch so etwas ging, und was war daraus zu schließen? Vielleicht, daß der Druck der Macht auch das Denken bestimmen konnte, und daß man eben so dachte wie schon immer gedacht worden war.

Jetzt und auch in den nächsten Jahren der Gefangenschaft wurde auch niemals irgendwo spürbar, daß jemand unter den Gefangenen gegen den Nationalsozialismus war, nie fiel ein Wort der Kritik. Tausende von deutschen Soldaten marschierten morgens durch die Lagertore und abends wieder hinein, sie saßen zusammen und redeten, aber keiner schien anfällig zu sein für Demokratie. Gegen den Nationalsozialismus zu sein, wäre gleichzeitig Fahnenflucht gewesen, und das Kriegsende stand noch bevor, wo man doch wahrscheinlich zurück mußte in ein Deutschland, in dem noch die alten Machthaber regierten. Die wußten, wie man mit Gegnern umgeht.

Eines Tages wurde alles anders. 

Patrick Gallagher war auf einem seiner vielen Urlaube, und in dieser Zeit wurden Willy Caspers und viele andere aus dem Camp in kleinere Camps verlegt. Willy Caspers kam nach Naples, einen kleinen Ort an der kanadischen Grenze, wo die Gefangenen Transportarbeiten in einer Marmeladenfabrik auszuführen hatten. Es war dies die Folge des Briefes an das Rote Kreuz. Gefangene, die „trouble“ machten, unnötigen sogar, waren gefährlich und mußten voneinander isoliert werden.
Alle nahen Freunde von Caspers waren in andere Camps versetzt worden. In den freien Stunden stand er am Lagerzaun und spürte den frischen Wind, der von Kanada herüber wehte, wie einen Wind der Hoffnung. Was auch immer kommen sollte, es war kein Krieg mehr.
Die Gefangenen arbeiteten nachts. Caspers stand am Fließband in der nächtlichen Halle und hob Tröge mit Weintrauben und stellte sie auf das Band, Tröge, die ununterbrochen durch Lastwagen an der Rampe angeliefert wurden. Er mußte sich anstrengen, die Tröge  waren schwer für den schmächtigen Jungen. Man sah ihm die Anstrengung an. Er fiel zwei Aufsehern auf, die ihn beobachteten. Schließlich kam einer heran und sagte, er habe eine andere Arbeit für ihn. Er führte Caspers zu einem Kessel, in dem Wasser oder Traubensaft, Caspers bekam es nie heraus, erwärmt wurde. Seine Aufgabe war, das Thermometer am Kessel zu beobachten und sofort zu melden, wenn es eine bestimmte Marke überschritt. Wahrscheinlich hatten die Aufseher angenommen, daß er schnell mit der Leistung nachlassen und den Ablauf verlangsamen würde, vielleicht waren sie auch mitleidig. Casper dachte flüchtig darüber nach. Zu einem stärkeren Gefühl, vielleicht Dankbarkeit, kam es nicht bei ihm. Gefangene, Gedrückte, Geduckte und Unterworfene haben keine ungehemmten, deutlichen Gefühle. An Affekten mangelt es ihnen wahrscheinlich nicht.

Er saß auf dem Betonboden, mit dem Rücken an den Kessel gelehnt, und schielte ab und zu nach dem ihm anvertrauten Thermometer. Hier sitze ich, die Zeit verrinnt nutzlos; Zeit, in deren Adern flüssiges Gold rinnen würde, wenn ich über sie verfügen könnte – aber auch gewonnene Zeit; Zeit, in der ich nicht totgeschossen werde, Zeit, in der ich nicht stöhnend schweren Tröge aufs Laufband wuchten muß.
Während Caspers träge in die gespenstisch erleuchtete Halle schaute, fiel ihm an der Presse ein wie mit Blut übergossener langer, blonder Junge auf.  Wenn sich der Deckel der Presse senkte, spritzte der rote Traubensaft über ihn und floss an ihm herunter. Der Anblick prägte sich ein.
Zunächst war er inmitten der anderen fast immer allein

Im Camp duschten morgens alle und legten sich schlafen.  Sie wachten meistens schon mittags auf. Caspers unterhielt sich manchmal mit dem Blonden, der Ulrich Füldner hieß, Klavier spielen konnte und daheim mit seinen Eltern in Konzerte gegangen war, und das klang nach einer höheren, besseren Welt. Vielleicht werde er eines Tages eine Galerie eröffnen, sagte er. Und er konnte zeichnen, auffallend gut sogar. So mußte er manchmal Aushänge für das Schwarze Brett gestalten. Mit seiner Mutter sei er viel herumgereist und habe Ausstellungen besucht.
In der Verwaltungsbaracke stand etwas ganz Seltenes – ein Klavier. Eines Tages sah er Ulrich Füldner am Klavier. Er spielte allein und hingegeben. Casper stand am Türeingang und blickte zu ihm hinüber. Plötzlich hätte er weinen mögen – daß es so etwas gab wie solche Klänge von himmlischer Süße, einen Jungen, der mit ihnen verschmolz, und draußen und überall eine Welt, durch die qualvolle Schreie klangen und die nach Leichen stank. Es durfte sie nicht geben, Nein und tausendmal Nein. Ein Gott mußte aufstehen und seine Locken schütteln, er wischte sie beiseite, diese Welt, die Sonne brach durch, und dann war da nur noch Hellblau und weiße Wolken, und diese Musik.


© Karl Otto Mühl - Romanfragment - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008

Karl Otto Mühl feiert heute seinen 85. Geburtstag.