Das Ende der Briefkultur?

Simon Garfield – „Briefe!“

von Frank Becker

Das Ende der Briefkultur?
 
 
„Auf der ganzen Welt muß es Millionen Menschen geben,
die nie einen Liebesbrief bekommen … Ich könnte ihr Anführer sein.“
Charlie Brown
 
Es gehört wohl für jeden Menschen zum Schönsten, den Hausbriefkasten zu öffnen und darin einen persönlichen, handgeschriebenen Brief oder eine hübsche Postkarte zu finden. Da hat jemand an dich gedacht, sich an den Tisch gesetzt, dir mit Papier und Feder seine Gedanken oder Neuigkeiten mitgeteilt, sie anschließend in einem Kuvert verschlossen, adressiert, mit einer Briefmarke versehen und zur Post gebracht. Und: der Absender hat dir damit obendrein seine Wertschätzung vermittelt.
Schreiben Sie eigentlich noch Briefe? Und wenn ja, bekommen Sie auch schriftliche Antworten? Finden Sie in ihrem Hausbriefkasten außer Werbeschriften und Rechnungen überhaupt noch Handgeschriebenes? Und ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß die Post in den letzten Jahren eine Vielzahl von Briefkästen abgehängt hat, vielleicht, weil sie gar nicht mehr benutzt werden?
Eins steht fest: die bis in die jüngste Vergangenheit gepflegte, Tausende Jahre alte Briefkultur hat ab dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts zunächst durch die Verbreitung des Telefons, dann durch die Einführung der Internet-E-Mail und schließlich durch die Erfindung von Kurznachrichtendiensten wie SMS, Facebook, Twitter, WhatsApp und ähnliche nicht nur spürbar bis radikal abgenommen – sie scheint dem Untergang geweiht. Nicht ohne Schuld an dieser Entwicklung ist auch die schulische Erziehung, die auf dem Weg ist, die handschriftliche Individualität abzuschaffen, charaktervolle Schriftzüge durch einheitliche Blockschrift zu ersetzen. Es gibt schon jetzt Kinder, die weder eine eigene Handschrift entwickelt haben, noch in der Lage sind, die eines anderen lesen zu können.
 
Ein Brief ist ein Gefühl fast wie Unsterblichkeit,
ist er doch reiner Geist ohne leiblichen Begleiter.

Emily Dickinson


Der Charme des elegant mit einer Füllfeder geschriebenen Briefes, scheint es, ist so dem Untergang geweiht - wenn, ja wenn wir uns nicht dagegen auflehnen, dagegen anschreiben.
Der englische Autor und Journalist Simon Garfield tut es, er schreibt nicht nur als privater
Briefschreiber dagegen an, er hat das Thema zum Anlaß genommen, ein ordentlich dickes Buch darüber zu schreiben. Das liegt seit einiger Zeit in der Übersetzung von Jörg Fündling beim Theiss Verlag vor.
Simon Garfield nimmt seine Leser darin in die Welt und die Geschichte der Briefe mit: von den alten Römern im entlegenen Vindolanda über die Briefe englischer Kolonialsoldaten in die Heimat, über Liebeskorrespondenzen, historische Briefdokumente bis hin zur E-Mail. Er erzählt, wie sich schon Petrarca über den beschissenen Zustelldienst beklagte, wie begehrt die Lektüre der Briefe der Mme. de Sévigné nach ihrem Tod für eine breite Öffentlichkeit waren, warum Jane Austens Briefe stinklangweilig sind, was Chris Barker im 2. Weltkrieg an seine Frau Bessie und sie ihm geschrieben hat und was es damit auf sich hat, daß Charlie Brown nie eine Valentinskarte oder einen Liebesbrief bekommt. Donald Duck, der sich als zuverlässiger Briefträger einen Namen gemacht hat, kommt nicht vor. Deshalb wird er hier und jetzt besonders erwähnt. Daß Briefe, wie bei Goethe und Schiller belegt, durchaus auch für die Nachwelt gedacht waren und als Teil des Gesamtwerks verfaßt wurden ist ein anderer Aspekt der Briefkultur. Unendlich viele Briefwechsel großer Dichter, Autoren, Philosophen, Künstler und Personen der Zeitgeschichte wurden in Buchform ediert und von Lesern verschlungen. Es muß etwas Besonderes haben, in die Briefkuverts fremder Menschen zu schauen, zumal, wenn sie berühmt sind oder waren.
 
Es gab zu allen Zeiten „Briefsteller“, um weniger geschickten Schreibern das Verfassen selbst von Liebesbriefen zu erleichtern. Auch dazu hat
Simon Garfield einiges zu sagen. Daß der Wert eines Briefes sich durchaus auch in barer Münze niederschlagen kann, sieht man an den erstaunlichen Preisen, die für Briefe und Autographen bekannter Persönlichkeiten erzielt werden. Archive und Privatsammler sind gerne bereit, für ein solches Zeugnis der Briefkultur bei Auktionen ordentliche Summen auszugeben.
Wenn auch im Wesentlichen begrenzt auf den englischen und französischen Sprach- und Kulturraum, mit „deutschen“ Ausflügen zu u.a. Franz Kafka, J.W. von Goethe und Liselotte von der Pfalz ist Garfields neues Buch auch für den deutschen Leser ein wunderbares Kompendium, ein Hohelied auf die Briefkultur. Wer Briefe liebt, wird auch dieses Buch mögen. Sicher eine herrliche Lektüre für die kommenden langen Weihnachts- und Ferientage – und vielleicht eine Anregung, selber mal wieder zu schreiben.
 
„Trari, trara - die Post ist da!
Trotz Blitz und Wind kommt sie geschwind.“
Donald Duck

Simon Garfield – „Briefe!“
Aus dem Englischen von Jörg Fündling.
Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickte
© 2015 Theiss Verlag, 539 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 97 s/w Abbildungen, Lesebändchen, Bibliographie und Register, 14,5 x 21,7 cm - ISBN: 9783806231755
29,95 €
 
Weitere Informationen:  www.wbg-verlage.de
 
Lesen Sie dazu auch unseren Artikel → „Postkarten“