Ein Traumbilderbuch

Liu Ye – „Catalogue Raisonné 1991-2015“

von Frank Becker

Liu Ye, Sword - © Liu Ye

Ein Traumbilderbuch
 
Dieser erste umfassende Katalog über das Werk des 1964 in Beijing geborenen chinesischen Malers Liu Ye spiegelt ganz aktuell dessen Schaffen eines Vierteljahrhunderts, nämlich von 1991-2015. Man kann Liu durchaus einen Shooting Star der Kunstszene nennen, wen man sich vor Augen hält, daß seine Bilder bereits bei Kleinformaten sechsstellige Dollar-Summen erzielen und daß das 180 x 360 große Bild „Sword“ (2001-2002, Acryl auf Leinen), mit dem der Schutzumschlag des Katalogs geschmückt wurde, bei Sotheby´s auf 3 Millionen US-Dollar geschätzt wird.


Liu Ye, Once Upon A Time On Broadway - © Liu Ye
 
Liu ist ein unerhört witziger Maler, der seine Einflüsse nicht nur nicht versteckt, sondern plakativ herausstellt, beginnend mit europäischen Märchenbüchern u.a. von H.C. Andersen und den Brüdern Grimm, die er aus seiner Jugend durch den Vater kennt, der selber Kinderbuchillustrator

Liu Ye, A view of my teacher´s back - © Liu Ye

Liu Ye, Yellow (A dream of his teacher´s front?) - © Liu Ye
war. Bücher sind ein wiederkehrendes Motiv vieler von Lius Bilder. Klassische russische Literatur schlägt sich nieder, der niederländische Alte Meister Johannes Vermeer wird wie bei „Boogie Woogie
“ personifiziert, moderne europäische und amerikanische Malerei des 20. Jahrhunderts aus Konstruktivismus, Expressionismus, Bauhaus – hier immer wieder Piet Mondrian, der Lius Werk beherrscht und ab und an auch als kombiniertes Selbstporträt Liu/Mondrian auftritt. Der Surrealismus von René Magritte (Brooklyn, The Second Story)und Giorgio de Chirico (Berlin Still Life) spiegelt sich in manchem von Lius Bildern, Edward Hoppers Neo-Realismus („Interior“) ebenfalls. Aber auch das Thema Comic spielt eine wichtige Rolle, so Dick Brunas „Miffy the Rabbit“, den er förmlich „adoptiert“ hat und gelegentlich mit Mondrian kombiniert (z.B. „Once upon a time on Broadway“). „Lost Balance" vereint gar Elemente aus klassischer chinesischer Malerei, Propaganda, Salvador Dali und Mondrian, von dem Liu gar nicht genug bekommen kann.
Subtil erotische Cartoons sind ein weiteres starkes Element, Liu spielt mit der nur scheinbar zierlichen Unschuld und der wie zufälligen so doch provokativen Nacktheit sehr junger, zierlicher Frauen. Der drohende/strafende Rohrstock der Lehrerin in „A view of my teacher's back“ (2004) kehrt wie ihre erträumte Vorderseite (
Yellow) in explizit erotischem Zusammenhang häufig wieder auf.

Lius Bilder reichen auch weit in die kollektive chinesische Erinnerung an die Propaganda der Kulturrevolution, die Zeit seiner Kindheit, zurück. Militaristische Träume mit Kampfhandlungen und seinem Kindheitswunsch, ein Marine-Soldat zu sein, nehmen in etlichen Variationen erstaunlich viel Raum ein: „Lost Balance“, „Silence of the Sea“, „War Children“. Engelschöre erinnern wiederholt an die sicher oft gehörten Armeechöre von Lius Kindheit. Ein Romeo, der sich erschossen hat, erscheint an anderer Stelle als über einem Buch eingeschlafener Knabe wieder. Liu steckt voller Überraschungen. Seine Porträts bekannter Köpfe („Chet Baker“, „Mozart“, „Eileen Chang“) treffen ganz dicht an der Karikatur den Kern und haben neben sicherem Blick für Charakter oft auch Humor - Papst Johannes Paul II. mit einem Schweinchen auf dem Schoß ist jedenfalls köstlich.


Liu Ye, Red little navy - © Liu Ye

 
Das Studium der Bilder Lius im opulenten „Catalogue Raisonné 1991-2015“ ist wie ein großes vergnügliches Rebus mit der Suche nach Impulsen und Vorlagen, Träumen vom Fliegen und Lüsten – ein Traumbilderbuch mit kleinen Fehlern, denn die Zuordnung von Märchenmotiven und die Schreibweise H.C. Anderson zeigt gelegentlich gewisse Unsicherheiten. Das Vergnügen an seinen Bildern bleibt davon aber völlig unberührt.
Studiert hat Liu Ye in Beijing (School of Arts & Crafts / Central Academy of Fine Arts), Berlin (Universität der Künste) und Amsterdam, wo er an der Rijksakademie 1998 Artist in Residence wurde. Heute lebt er überwiegend in Beijing.


Liu Ye, International Blue - © Liu Ye
 
Liu Ye – „Catalogue Raisonné 1991-2015“
Edited by Christoph Noe, Texts by Paul Moorhouse, Phil Tinari, Zhu Zhu, graphic design by Marc Naroska
© 2015 Hatje Cantz, 398 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, 438 farbige Illustrationen, 27,4 x 30,8 cm, Text: Englisch, Chinesisch  -  ISBN 978-3-7757-3922-1
58,- €


Liu Ye, Composition with Bad Girl - © Liu Ye
 
Weitere Informationen:  www.hatjecantz.de