Der alte Mann 7

von Erwin Grosche

„Lauf!“ rief er seinem Hund zu und ließ ihn von der Leine. - Foto © Frank Becker

Der alte Mann
7
 
Der alte Mann ging mit seinen Hund spazieren.
Es regnete, und kein Hoffnungsschimmer erschien tröstend am Horizont. Der alte Mann hatte keinen Schirm dabei und spürte, wie ihn der Tränenhimmel an seine Brust drückte. Er stand am Kilianplatz und kam nicht über die Straße. Ein wartender Bus bremste den gesamten Verkehr aus und ließ nur eine Fahrspur frei. Der Busfahrer saß allein in seinem Bus und trank Kaffee aus einer Thermoskanne. Er sah traurig aus. Endlich schaffte es der alte Mann zum Glascontainer und entsorgte dort sein Leergut. Bei jedem Wurf murmelte er beschwörend: „Scherben bringen Glück.“ und wieder: „Scherben bringen Glück.“ Der kleine Hund zog ihn zu dem kleinen Weg, der zwischen dem Friseurladen und der Pizzeria lag. „Lauf!“ rief er seinem Hund zu und ließ ihn von der Leine. Der alte Mann schaute in den Himmel. Hatte es zu regnen aufgehört und hatte sich dieser Lump ein anderes Opfer ausgesucht? Ein Jogger kam ihm entgegen, der einen Kinderwagen schob, in dem kein Baby lag. „Da ist nichts drin“, sagte der alte Mann.
Der Jogger tat übertrieben entsetzt, als wäre er überrascht, bis er erklärte: „Ich bringe nur den Kinderwagen zu meiner Schwiegertochter. Ich habe die Reifen repariert.“
Der alte Mann ging weiter. Irgendwie glaubte er der Erklärung nicht. Die Menschen taten die sonderbarsten Dinge, um miteinander ins Gespräch zu kommen. „Wenn wir uns wenigstens was zu sagen hätten“, murmelte der alte Mann. Plötzlich sprang ihn sein Hund an und wollte wieder an die Leine genommen werden. „Laß das“, sagte der alte Mann. Sie gingen weiter.
„Sonderbar“, murmelte der alte Mann, daß der kleine Weg zwischen „Im Samtfelde“ und der „Kilianstraße“ keinen Namen hatte. „Robert“, rief plötzlich eine Frau und pfiff einem Pudel hinterher, der gerade von der Pankratiusstraße auf den namenlosen Weg lief. Nun sah der alte Mann auch die Frau. Sie trug eine kleine Trillerpfeife um den Hals und entlockte ihr einen Ton, den nur ihr Hund hören konnte. Der Pudel blieb trotzdem erst stehen, als er den Hund des alten Mannes erreicht hatte. Die Hunde beschnupperten sich. „Die wollen spielen“, sagte die Frau. Der alte Mann nickte. Er wußte nicht, was er sagen sollte. „Ich fühle mich heute so allein“, sagte er plötzlich. Die Frau spannte ihren Schirm auf. „Das liegt am Wetter“, sagte sie. „Überall ist es grau und ungemütlich.“ Der alte Mann nickte. „Das ist es nicht“, sagte er. „Ich vermisse plötzlich so viel.“
„Was vermissen sie denn?“, fragte die Frau und rief ihrem Hund zu, daß er nicht so wild spielen solle. Der alte Mann wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht ab.
„Ich vermisse auf einmal so vieles, was ich vorher nicht vermißt habe“, sagte er und wußte, wie sonderbar sich das anhören mußte. „Ich vermisse die Poststelle in der Westernstraße“, sprach er weiter. „Ich vermisse das Eiscafé Favretti. Was ist eigentlich aus der Frau geworden, die immer einen Poncho trug und ihr Haar zu zwei dicken Zöpfen geflochten hatte?“
Die Frau schüttelte den Kopf. „Ich wohn` noch nicht lange hier“, sagte sie schließlich.
„Sie war Porzellanmalerin und konnte so schöne Rosen malen oder was das war“, sagte er.
Die Frau nahm ihren Pudel wieder an die Leine.
„Ich vermisse auch meinen Nachbarn, der immer mit seiner Zigarre auf der Bank saß“, fuhr der alte Mann fort. Er schluckte und konnte nicht mehr aufhören zu klagen.
„Ich vermisse auch unsere alte Postleitzahl“, flüsterte er. „Gibt es noch Stutesäfte, Snobbies und Bergsiegerfahrräder?“ Die beiden Hunde standen um sie herum, als würden sie dem Gespräch lauschen. „Heute vermisse ich am meisten die Sonne“, sagte der alte Mann und lachte verlegen. Er schämte sich über seine Worte. Die Frau wollte gehen. Er spürte, daß sie nach tröstenden Worten suchte. „Zum Glück gibt es noch „Libori“, sagte sie. Er war erleichtert. Das stimmte. Zum Glück gab es in Paderborn immer noch das „Liborifest“. „Und Weyhers“, sagte er. „Im Haxtergrund gibt es auch immer noch Herrn Weyher mit seinem Apfelkuchen.“ Sie lachte, aber er sah ihr an, daß sie nicht wußte wovon er sprach. Sie gingen auseinander. Die Sonne kam plötzlich hervor.
 


© 2015 Erwin Grosche

Redaktion: Frank Becker