Wenn Uhren schmelzen...

Credo für den Teufel – Busonis „Faust“ mit Hampson

von Peter Bilsing
„Wenn Uhren schmelzen…“
 
Referenzaufnahme des Meisterwerks bei ARTHAUS - (Arthaus - 101.283)

Liebe Opernfreunde! Vor zehn Jahren noch hätte ich gesagt: „Oper vor dem Fernseher ist eine Notlösung, kein Genuß und niemals mit einer Live-Aufführung vergleichbar, absolut unbefriedigend!“ Nachdem ich mir nun die DVD von Ferrucio Busonis „Doktor Faust“  (Arthaus 2007) zu Gemüte und Gehör geführt habe und meine Ton- und Bildanlage auf neuerem Stand ist, beginne ich zu schwanken. Allen Ernstes! Schön und gut, die 500 Schweizer Franken, welche ein Premierenkarte 1. Kategorie gekostet hätte, müssen sie natürlich in passabel digitales 5-Kanal-Audio schon investieren, aber dann geht es Ihnen vielleicht, wie dem Rezensenten: sitzend vor dem Bildschirm klatscht und braviert man am Schluß zusammen mit dem Publikum der Konserve, als säße man live in der Oper. Schweißgebadet und mit einem Puls von 170 hielt es mich nach Mephistopheles zynischem „Sollte dieser Mann etwas verunglückt sein…?“ und dem Orchestercrescendo nicht mehr im antiken TV-Ohrensessel. Unerhört!

Und selbst wenn Sie noch über keinen Großbild-Plasma oder Beamer verfügen (rücken sie einfach ihrem TV dichter auf den Pelz), ist der digitale Raum-Klang immer noch so brillant, perfekt und verzehrend, daß man trotz Live-Aufnahme die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören könnte. Der Rezipient taucht regelrecht in die Oper ein. Gottseidank ist auch das Zürcher Publikum so zurückhaltend und die Technik so ausgefuchst, daß nicht zur Oper gehörende Nebengeräusche nahezu verschwinden. Kein Vergleich mit den meisten sonstigen Opera-Live-Mitschnitten. Ein Bravissimo an die Technik-Crew! Die Aufnahme ist in Dolby-Digital 5.1. schon mindestens 5 Sterne wert – im dankenswerterweise schaltbaren DTS (Digital-Theatre-Sound) ein glattes 6-Sterne-Erlebnis. Eine Referenzaufnahme und für längere Zeit sicherlich das Maß der Dinge. Besser kann es nicht klingen.

Mit Superstar Thomas Hampson als die quasi darstellerische und gesangliche Inkarnation des „Faust“, einem adäquaten passenden Gregory Kunde als „Mephistopheles“ und dem traumhaft und hochkonzentriert aufspielenden „Orchester des Zürcher Opernhauses“ unter dem spannungsvollen Dirigat von Philippe Jordan ist auch künstlerisch eben dieses  „Maß der Dinge“ erreicht. Da verblaßt geradezu unsere bisherige Referenz (DG 1970) mit Fischer-Dieskau, denn akustisch ist der Sprung von der CD-Technik zur klanglich überwältigenden DVD in digitalem Raumklang ein Meilenstein. Da DVD-Player (sie können damit auch weiterhin ihre alten CDs spielen) schon fast nichts mehr kosten, sollte der Opern- und Busoni-Freund spätestens jetzt umrüsten. Ihre Ohren werden Augen machen!
Die fabelhafte Bildregie, abseits der alteingefahrenen Brian-Large-Pfade und ohne neuere Mätzchen mit langem Galgenbaum und fliegender Kamera (Verantwortlich für die TV-Produktion ist Felix Breisach), füllt das 16:9 Format in jeder Szene vorbildlich und höchst musiksensibel. Nahaufnahmen der Sänger bis auf Porentiefe bezeugen nicht nur eine perfekte Maske, sondern erlauben uns die Sicht auf eine Körpersprache und Mimik, die sicherlich selbst aus der ersten Reihe des Zürcher Opernhauses nicht so wahrgenommen werden kann. Im extremen Nahbereich werden, neben vielen anderen, auch die Feinheiten von Klaus Michael Grübers feinsinniger Regiearbeit sichtbar. Niemals wird der Sänger durch Mätzchen oder Spielereien behindert, es gilt ein „weniger ist mehr“, das Lichtdesign ist passend und die von Eduardo Arroyo gebaute Bühne im beweglichen Schaukastendesign ist werkadäquat gelungen. Die eindrucksvollen Kostüme von Eva Dessecker (mein persönlicher Oskar für das Mephistopheles-Outfit!) runden diese „Jahrhundertproduktion“ ab.

Als Extras dieser Doppel-DVD gibt es sehr interessante Interviews mit Jordan und Hampson, wo unter anderem der Dirigent überzeugend erklärt, warum man den Jarnach-Schluß dem „etwas spröden“ von Beaumont vorgezogen hat. Daneben zeigt auch Hampson, daß er nicht nur durchaus witzig parlieren kann, sondern auch über einen enormen Wissensfundus verfügt. Es ist ein Genuß, diesem hochintelligenten Sänger zu lauschen, der über das Werk sehr treffend sagt: „Diese Musik ist für mich, wie ein Salvador-Dali-Traum; sie läßt die Uhren schmelzen.“ Über die Schwierigkeit von Lyrik und Dramatik eines Baritons: „Wir singen, wo andere Künstler sprechen.“ …weise Worte.
Finallement noch etwas zur Musik Busonis. Unter den rund 80 Faust-Vertonungen, davon mehr als 50 Opern, spielt „Doktor Faust“ auf unseren Bühnen leider nur eine marginale Rolle, entsprechend überschaubar ist das Tonträgerangebot. Die Gründe liegen sicherlich nicht nur in der unglaublichen Schwierigkeit der Hauptpartien, die selbst Hampson als fast unsingbar deklariert („Es ist eigentlich eine Wahnsinnspartie, man findet halt selten einen Trottel, der das alles lernt.“ - Originalton), sondern auch in der ungewöhnlichen Vielfältigkeit der Tonsprache des Komponisten, die in ihrer virtuosen Komplexität und Sinnlichkeit höchste Ansprüche an jedes Orchester und alle Künstler stellt. Darüber hinaus ist der Aufwand beträchtlich, denn es braucht alleine vier Dirigenten hinter der Bühne, die Bühnenmusiken, Chöre, Orgel und Glockenspiele koordinieren; ein gigantischer Aufwand.

Damit liegt eines der gewaltigsten und schönsten Werke des 20. Jahrhunderts bei ARTHAUS in einer Referenzaufnahme vor, die alle Ansprüche an künstlerische Qualität und technische Perfektion mehr als erfüllt. Für mich eine „Jahrhundertaufnahme“. Maßstab für Busoni-Interpretation und darüber hinaus ein hoffentlich zukunftsweisendes Plädoyer für dieses ungeheuerliche, gelegentlich auch als unspielbar verschriene Opern-Meisterwerk.
 
Beispielbild

Doktor Faust
Oper von Ferruccio Busoni

Thomas Hampson (Dr. Faust)
Gregory Kunde (Mephistopheles)
Sandra Trattnigg (Herzogin von
Parma) u.a.

Chor und Orchester der Oper Zürich
Dirigent: Philippe Jordan

Aufnahmeort/-datum:
Livemitschnitt Opernhaus Zürich 10/11.2006

Regie/Inszenierung: Michael Grüber
Bühne: Eduardo Arroyo

Solisten: Thomas Hampson, Thomas Hampson, Günther Groissböck, Gregory Kunde u.a.

Arthaus Musik

Sprache(n): Untertitel: Französisch (Texte), Deutsch (Texte), Italienisch (Texte), Englisch (Texte), Spanisch (Texte)

Bildformat: 16:9

Tonformat: Musik 2.0 PCM, Musik 5.1 Dolby Digital, Musik 5.1 DTS

Spieldauer: 2:52:00

Systemvoraussetzung: Kodierungsart: Codefrei. TV-Norm: NTSC. Ausgabeformat: 16:9. Aufnahmeformat: 1,78:1. Sprachversion: Musik 2.0 PCM, 2/0, PCM. Sprachversion: Musik 5.1 DTS, 3/2.01, DTS. Sprachversion: Musik 5.1 Dolby Digital, 3/2, AC3. Sprachversion: Musik PCM Stereo, 2/0, PCM

Bestellnummer: Arthaus - 101.283

Weitere Informationen unter:
www.arthaus-musik.com