Geht unter die Haut - ohne Kitsch

„Heidi“ von Alain Gsponer

von Renate Wagner

© studiocanal
Heidi
 (Deutschland, Schweiz / 2015)

Regie:
Alain Gsponer
Mit: Anuk Steffen, Bruno Ganz, Katharina Schüttler, Hannelore Hoger, Peter Lohmeyer, Isabelle Ottmann,
Quirin Agrippi
 
Man war mehr als skeptisch – kann „Heidi“ auf der Filmleinwand heutzutage gelingen, der Schweizer Kinderklassiker von anno dazumal, der in unseren Augen vor Kitsch überquillt, wohin man schaut: das liebliche Waisenkind Heidi, der brummige Opa Almöhi, die herrlichen Berge und im Gegenzug dazu die böse Stadt, wo die Ungebundenheit des „Naturlebens“ in ein grausames Reglement übergeht – und schließlich das Happyend, wo die Natur alles Leiden heilt und der menschlichen Seele Glück und Ruhe gibt?
Schön hat sich das Johanna Spyri 1879 ausgedacht, damals vermutlich als Belehrung für naturferne Städter, zudem eine über die Maßen rührende, vielfach betuliche Kindergeschichte. Regisseur Alain Gsponer ist mehr dazu eingefallen. Natürlich läßt er mit der Kamera die Schweizer Berg- und Almenschönheit bewundern, das ist einfach essentiell und ein Teil der Aussage. Aber er erzählt dazu eine annähernd „echt“ wirkende Geschichte, die einen Teil ihrer Härte aus Realität und nicht aus spekuliertem Rührungs-Effekt zieht.
 
Er folgt dem Buch ziemlich genau, und schon wenn die unwirsche Tante (Jella Haase) die kleine Heidi durchs Dorf schleppt, merkt man, daß mit den Dorfbewohnern nicht gut Kirschen essen ist und diese schon sehr hart den „Almöhi“ da oben in der Einschicht ausgrenzen. Der ist auch nicht der grumplige, „aber dann ja doch liebe Opa“, sondern der verärgerte Einsiedler – es bringt schon etwas, wenn man ein Kaliber wie Bruno Ganz zu einer solchen Rolle überreden kann, denn dann kommt nicht das Klischee, sondern der Mensch hervor. Er muß in seinem Mißtrauen allem gegenüber erst überzeugt werden – und diese Heidi kann es.
Der Film ist der Triumph der kleinen Hauptdarstellerin, der 10jährigen Anuk Steffen. Sie spielt ein kleines Kind, das es im Leben immer schwer hatte, elternlos, stets herumgeschoben, und das weiß, daß es sich seinen Platz im Leben selbst suchen muß. Keine Frage, daß sie „herzig“ ist, aber nie penetrant, sie ist von hinreißender Natürlichkeit, aber nie süßlich, sie stellt die kleine, starke Persönlichkeit hin, die sich Johanna Spyri vermutlich vorgestellt hat, und sie erzeugt Anteilnahme, auch Mitleid, gerade weil sie es nie darauf anlegt. Diese Heidi greift ans Herz, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, nicht, weil dieses hinreißende Naturkind uns etwas vorweint, sondern weil es die eigenen Schmerzen nicht zulassen möchte.
Das bißchen Almglück mit dem Großvater und dem Geißenpeter (Quirin Agrippi) entwickelt sich ganz selbstverständlich, bis dann die „Katastrophe“ kommt und ein Kind sich erneut herumschieben lassen muß.
 
Nun gibt es in Frankfurt, im Hause Sesemann, wo Heidi einer gelähmten Tochter Gesellschaft leisten soll (Isabelle Ottmann als Klara ist als Figur nicht so genau gezeichnet, wie es möglich wäre), nur eine „böse“ Figur: Katharina Schüttler gibt das Fräulein Rottenmeier schon ein wenig wie die „böse Hexe“ im Märchen, aber der Regisseur macht doch klar, daß hier eine arme Person durch strikte preußische Überkorrektheit nur ihre Stellung sichern möchte…
Dafür sind, auch wenn man sich in gesellschaftlich beengter, menschlich beengender Bürgerlichkeit befindet, die „Guten“ nicht zu gut, sondern irgendwie als liebenswerte Charaktere möglich – der Butler des Peter Lohmeyer, Maxim Mehmet als freundlicher reicher Herr, Markus Hering als verständnisvoller Doktor und vor allem Hannelore Hoger als die Großmutter mit dem großen Herzen. Alle natürlich aus dem Bilderbuch (oder dem Kitschroman), und dennoch gelingt es der Regie, hier in Frankfurt auch auf dem Boden einer möglichen Realität zu bleiben – wie der Regisseur den Film auch zu seinem strahlenden Happyend führt, ohne dem Triefen der Vorlage in die Falle zu gehen.
Es ist wundersam, was mit „Heidi“ da passiert. Die besten Elemente des Buches werden realisiert und lassen vergessen, was uns heute daran künstlich und kitschig vorkommt. Heidi ist hier eine Art wahrer Geschichte, die – wer hätte das gedacht – unter die Haut geht.
 
 
Renate Wagner  9.12.15