Bestsellerfressen

„Urin - Ein ganz besonderer Saft“ von Carmen Thomas

von Wolfgang Nitschke

Wolfgang Nitschke - © Manfred Linke / laif
Zeit, sich zu verpissen
 
„Urin - Ein ganz besonderer Saft“
von Carmen Thomas
 
Meine Damen und Herren!
Was macht eigentlich Carmen Thomas? Hm. Gute Frage. Wahrscheinlich grade Pipi. Aber nicht so, wie die normalen Bedürftigen ...
Egal.

Meine Damen und Herren, ich kenne niemanden, der sich nicht gerne an die Zeit erinnert, als bei Sendungen wie „Hättens Sie’s gewußt?“ von und mit Heinz Maegerlein Menschen vor ‘nem Mikro noch halbwegs gesunde Sätze auf die Reihe bekamen. (Kann auch sein, daß ich mich vertu – wir waren ja noch jung). Doch dann brachen irgendwann die tabu-brechenden 80er Jahre an und damit die stille Stunde, in der die gelernte 68erin Car­men Thomas den Satz zu sich sprach: „Heute ist ein schöner Tag zum Tabu-Brechen. Und ich hab mir auch schon ein dickes Tabu ausgedacht: Pipi! Was halten Sie davon?“ Und in diesen euphorisierenden Zeiten des „Was woll’n wir trinken, sieben Tage lang!“ gebar die Journalistin unter befreienden Hirnkrämpfen im Jahre ‘93 dann einen Schmonzes, der eine sprachlose Welt hinterließ:
„Urin – ein ganz besonderer Saft“.

Vom Wein, dem geistigen Getränk, sagt man ja, daß da veritas drin sei. Was Fremdes. Inspirierendes. Irgendwas Neues. In Carmens Natursektkellerei treffen wir dagegen auf ganz alte Bekannte, auf uralte Bärte und noch ältere Zöpfe aus längst vergangner, echter alter Zeit. Alles, was in der kopflosen Zopf-und Bärte-Szene die Shitlisten anführt, gibt sich hier bei Tante Thomas Küßchen und die Klinke in die Hand:
Ganz alte tibetanische Augenärzte, noch ältere tibetanische Karbunkelkönige, taufrische Weisheiten aus dem Vorderen Hinterorient & natürlich die ältesten Papyrusrollen des alten Ägypten, unberührte Heiler-Inder und ungerührte Inder-Heiler, ganzheitlich verkorkste Hippies und versunkenes Kulturgut mit dem allerersten Hahnenschrei. Und last but not least selbst­verfreili das große Eingemachte des weisen Weltgeistes, „die uralte Ansicht, daß der Harn der Sitz der Seele sei.“ (Der Harn, nicht der Hahn! Und wenn schon Hahn, dann nur der Harn vom Hahn).

Die Carmen steht jetzt zwar mit ihrem Urin möglicherweise vor dem intellektuellen Ruin und wissenschaftlich auf sehr einsamen Posten & durchgeweichtem Boden, hatte aber ihr urinöses Gestrulle damals bereits über 1,5 Millionen Mal verhökert, und mittlerweile leben mitten in Deutschland an die 5 Millionen beherzte anonyme Uriniker fröhlich unter uns.
Carmen Thomas, die große, alte Dame der volkstümlichen Allgemeinverständlichkeit, hat sich für ihr Pinkel-Buch allerdings nur geringfügige Essenzen ihres eigenen Saftes aus'n Fingern gesogen. Ein Teil besteht aus O-Tönen ihres Ü-Wagens, ein weiterer Teil aus einem Teil eines schier nicht enden wollenden Strahls von Ergüssen ihrer hörigen, auf Heilung hoffenden Hörergemeinde und ein 3. Teil aus ausgesuchten Ar­tikeln von Fachorganen wie dem „Spiegel“, und zwar unter der verdruck­sten Kapitelüberschrift „Gedrucktes“, ein dezenter Hinweis und Indiz für die mentale Beschaffenheit von gläubigen Carmen Thomas-Jüngern, die in ihrem Ressentiment gegen Bücher, Geist & Logik alles anpinkeln, was nach Zivilisation riecht, und sich lieber lebenslänglich vor sogenann­tem versunkenen Kulturgut einen runterholen, als was weiß ich was.
Wie gesagt: „Pipi ist der Sitz der Seele.“
Egal.
Im besagten „Spiegel“-Artikel aus dem Jahre 77 leert nun ein indischer Urin-Gelehrter seinen universell beleuchteten Nachttopf auf folgende originell witzige Weise:
„Urin hilft gegen fast alle Krankheiten, von Krebs bis Husten, Magengeschwüren bis Hämorrhoiden, ja, selbst gegen Lepra und Pest.“
Und Raodschi-bhai Manibhai Patel – das ist jetzt keine indische Malesse, sondern der Name dieses schon eigenartigen Wissenschaftstheologen – zitiert ebenda, weil es sonst wahrscheinlich wieder keiner glauben will, „aus uralten Sanskrit-Schriften“, und dort speziell aus der „Unterhaltung des Gottes Shiwa mit seiner Gattin.“ Achtung, alles festhalten:
„Der Urin-Praktiker soll keine scharfen Speisen zu sich neh­men, maßvoll essen, viel arbeiten, seine Stimme unter Kon­trolle halten und auf dem Boden schlafen. Er soll frühmor­gens aufstehen und gen Osten urinieren.(!) Die ersten und letzten Tropfen soll er weglassen, den Rest sammeln und trinken. So genossen ist Schiwambu, das Wasser Shiwas“, das Pipi Gottes, „wie Nektar, es vertreibt Krankheit und Alter.“
Ja. So oder so.
Und wie zum Beispiel der indische Ministerpräsident Desai damals 77 drauf war, wird gleich mit überliefert:
„Ich glaube fest an mutra-Tschikitsa, die indische Urin-Heil­kunst. Für unser armes Land ist dies sicher die beste Kur.“ Und für die armen Carmen Thomas-User hierzulande – möchte man hinzufügen – mit Sicherheit auch.
Selbst ein göttlicher Mann wie Bischof Dyba, der vor gar nicht langer Zeit über sich geerzengelt hat: „Vor langer Zeit hatte Gott die Idee von einem Menschen, wie ich es bin,“ – selbst der Blöd würd‘ sagen: „Kinners, wir halten schon ne unglaubliche Menge für möglich, aber das geht entschie­den zu weit.“
„Schuppenflechte“, „Warzen und Furunkel“, „Rückenakne“, „Mundfäule und Mitesser“, „Glatzen“, „Aphten und offene Beine“, „Scharlach“, „Aids und Diphterie“, „Pestbeulen und Mückenstiche“ – manchmal verschwindet nach Carmen Thomas das ganze Elend schon auf Nimmerwiedersehn, wenn man sich auch nur nen kräftigen Schluck aus der Pipi-Pulle kurz vorstellt. (Bei mir wär das auf alle Fälle so.) Aber jetzt zur Praxis! Bitte schön:
„Nur den Mittelstrahl vom Morgenurin benutzen!“ Sonst hagelt's nämlich ästhetisch unüberwindbare Gegenanzeigen & alles is im Eimer. Wenn Schlucken nicht weiterhilft, kann man sich auch im Mondschein begegnen und mit „Pferdeäpfeln“, „Gazellenkötteln“, „Kinderaa“ oder „Eidechsenwichse“ einreiben. Wahlweise, falls grade griffbereit, tät’s auch „lauwarmer Kot von Krokodilen“.

Meine Damen und Herren!
Moderne Fachliteratur ist eine Sache, verweste Wunderschinken aus dem späten Spätmittelalter eine andere – und weil ganz, ganz alt, auch viel, viel überzeugender: Als in der Gegend der heutigen Bundesrepublik die ersten Menschen von den Bäumen hüpften und ohne Umweg noch in gebückter Haltung direkt in die nächste Kirche marschierten, vor kurzem also, da veröffentlichte ein gewisser „Kristian Frantz Paulini“, seines Zeichens Medizinmann & Generalfeldmarschall der katholischen Theolo­gie, ein Teil mit dem Titel „Die Heilsame Dreck-Apotheke“, womit dieser damit den gesammelten, damals gängigen Sondermumpitz aus dem Hause Eigen-Urin und Fremd-Baba dem durstigen Volke erstmals schriftlich gab, eine der redaktionellen Hauptquellen unsrer naßforschen WDR-Journalistin Carmen Thomas. Und die Carmen verschweigt dabei nicht, daß dieser Paulini auch der Urheber eines weiteren christlichen Straßenfegers war:
„Flagellum salutis oder Curiose Erzählung, wie mit Schlägen allerhand schwere, langwierige und fast unheilbare Kranck­heiten curirt werden.“
Nun anzunehmen, das gnadenlose Gottvertrauen in die Autorität des Prügelpädagogen und Dreck-Apothekers Paulini könne wenigstens durch sein 2. Traktat in schillernden WDR-Köpfen Schaden nehmen, hieße aber an Orten Hirnzellen vermuten, wo Hirnzellen schon allein wegen Futtermangel nicht vorkommen: Leute, liebe Leser, die Warzen bepissen, statt sie zu besprechen, prügeln auch auf sie ein & vermöbeln sogar den kom­pletten Warzenbesitzer, und zwar so lange, bis auch die Warze eben not­gedrungen ihren Geist aufgibt. Alles schon passiert.
Und das war dann wohl der point of no return, an dem Carmen Thomas die nächste wegweisende Tabubruch-Idee aus der Hose rutschte:
„Berührungsängste – Vom Umgang mit der Leiche.“
Ein Dingsbums, äh, ein Buch, in dem sie den Vorschlag unterbreiten will, sich für’n paar Tage zur toten Omma ins Bett zu kuscheln - wg menschenwürdiger Abschied und so.
Gute Nacht

Redaktion: Frank Becker