Erinnerung an die Vergangenheit

„Mr. Holmes“ von Bill Condon

von Renate Wagner

Mr. Holmes
(GB  2015)
 
Regie: Bill Condon
Mit: Ian McKellen, Laura Linney, Milo Parker u.a.
 
Man kann schon von einem Trend, einer Tendenz sprechen, denn in zunehmendem Maße werden Filme über alte Leute gedreht. Nicht über jene, die auf attraktive Art älter werden, sondern über wirklich alte Menschen. Sherlock Holmes – ja, der Meisterdetektive, nicht als vergleichsweise junger Benedict Cumberbatch und auch gar nicht von Sir Arthur Conan Doyles Gnaden, aber doch „der“ Sherlock Holmes, begegnet uns in diesem Film als sehr alter Mann über 90. Es ist kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, und er hat sich in ein Landhaus in Sussex zurückgezogen, in der Nähe der „White Cliffs of Dover“…
 
Wir erleben den sehr alten Herrn, dessen Gedächtnis gleichsam zu „gleiten“ scheint, wie er seine Tage vor allem als Imker verbringt, ein großer Kenner seiner Bienenstöcke. Mit ihm leben seine Haushälterin, die im Krieg verwitwete Mrs. Munro und ihr schätzungsweise 10jähriger Sohn, in dem sie die Erinnerung an den Vater wach halten will. Für Holmes ist der Junge der Enkel, den er nie hatte, und dem er vieles beibringt und vieles erzählt – und der mit großem Interesse der Vergangenheit des Meisterdetektivs auf der Spur ist.
Meisterdetektiv: Da kann Holmes nur lächeln. Nichts stimmt, meint er, alles Erfindungen des guten Dr. Watson, der so viele Bücher über ihn geschrieben hat. Schöne Ironie im Gleiten zwischen den Zeiten und dem eigenen Klischee ergibt sich in vielen Szenen, wenn etwa Holmes, der behauptet, nie Pfeife, sondern immer nur Zigaretten zu rauchen, sich selbst in einem Spielfilm sieht, verkörpert von dem pfeifenrauchenden Basil Rathbone.
Und doch gleitet seine Erinnerung zurück in die Vergangenheit, zu dem Fall einer jungen Frau, die von ihrem Mann des Ehebruchs verdächtigt wurde, die sich hilfesuchend an Holmes wandte – und der er nicht helfen konnte. Und seltsam berührt sein Besuch in Japan (wo er den Gastgebern zuliebe die berühmte, von Watson erfundene Kappe aufsetzte), auf der Suche nach einer Pflanze, die dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen soll.
Diese rückblickenden Handlungsstränge sind an sich völlig unspektakulär, und dennoch ist es Regisseur Bill Condon gelungen, nach dem Roman „A Slight Trick of the Mind“ von Mitch Cullin einen nicht nur wunderschönen, sondern von innerer Spannung erfüllten Film zu machen, dessen verschiedene Ebenen sich fein ineinander fügen. Bill Condon ist ein Regisseur, der so viel Verschiedenes gedreht hat, daß man ihn zwischen dem Biopic über Sex-König Kinsey, dem „schwarzen“ Musical „Dreamgirls“, zwei Teilen der „Twilight Saga“ und zuletzt „Wikileaks“ (über Julian Assange) kaum einordnen kann, aber offenbar macht er doch gerne Filme über historische oder pseudohistorische Gestalten – und niemand sage, daß Sherlock Holmes nicht so „echt“ ist wie jeder Mensch, der gelebt hat. Liebevoll dem Alter gegenüber, aber auch gnadenlos in der Schilderung von dessen Verfall hat „Mr. Holmes“ eine unverwechselbare Atmosphäre.
 
Und Ian McKellen – der große Gandalf aus dem „Herr der Ringe“ und im übrigen einer von Englands herausragenden Schauspielern auf Bühne und im Film – muß mehrere Holmes spielen. Selbst „erst“ 76 Jahre alt, gibt er in der Rahmenhandlung den 93jährigen mit aller Selbstverständlichkeit des Zerfalls, den das hohe Alter mit sich bringt, darf aber auch ins Jahr 1919 zurückkehren und um fast 30 Jahre jünger erscheinen, elastischer, gut aussehend, noch in seinen späteren besten Jahren, auf den Spuren einer schönen Frau, deren Geheimnisse es zu entschleiern gilt – wenn sein Gedächtnis ihn bloß nun, Jahrzehnte später, nicht im Stich ließe.
Und dann ist noch der Japan-Handlungsstrang, wobei es wieder um ein Spiel der Erinnerung geht – er weiß nicht mehr, was er mit dem in England verschwundenen japanischen Familienvater zu tun hatte, nach dem man ihn fragt, wenn er dorthin reist.
Die verwirrenden Vergangenheits-Ebenen werden von schöner, klarer Gegenwart konterkariert: Die Beziehung des alten Mannes zu dem Jungen, die Wichtigkeit, die die Generationen für einander haben, die „Männerfreundschaft“, aus der sich die Mutter des Buben ausgeschlossen fühlt… das müßte nicht Sherlock Holmes sein, um diese Geschichte zu schildern. Aber mit Ian McKellen, mit dem absolut bemerkenswerten jungen Milo Parker (unter den „Kinder“-Darstellern sind die unsentimentalen die besten – wie dieser) und mit Laura Linney als der praktischen, anständigen, aber von den Ansprüchen des alten Mannes verwirrten  Durchschnittsfrau entspinnt sich auch da das Besondere.
 
Auf ruhige Art, der große Action-Krimi ist es nicht, die einzige reale Bedrohung stellen Bienen (oder genauer: die bösen Wespen) dar. Aber das Abenteuer Altern und der Kampf um die eigene Erinnerung, das Bewußtsein des Selbst – das hat man selten spannender und berührender gesehen.
 
 
Renate Wagner